Kolumne Das Schlagloch: Als die Macht auf der Straße lag

Warum wir statt des 3. den 9. Oktober zum Nationalfeiertag erklären sollten.

Feiern wir den falschen Tag? Dies ist ein Plädoyer, den 3. Oktober morgen gleich noch einmal zu begehen. Morgen ist der 9. Nicht nur die größte und gebildetste deutsche Wochenzeitung hat zum Tag der Einheit eine DDR-Chronologie abgedruckt und das zentrale Datum des Herbsts von 89 einfach weggelassen. Der 9. Oktober 1989 - der Tag, an dem sich das Schicksal der Friedlichen Revolution in der DDR entschied -, er ist so gut wie vergessen. Das wäre wohl keinem anderen Land passiert. Man stelle sich vor, den Franzosen würde das Datum des Sturms auf die Bastille entfallen?

Der 3. Oktober ist ein stumpfer Feiertag, er ist das mehr oder minder zufällige Datum des Vollzugs eines Verwaltungsakts - wenn auch eines außerordentlichen. Gedenktage aber sollte man sich nicht aussuchen können. Die deutsche Einheit hätte an jedem anderen Oktober-Tag in Kraft treten können. Nur am 7. Oktober wohl nicht. Denn das war das Gründungsdatum der DDR. Der 7. Oktober war gestern.

Wahrscheinlich hat fast jeder Einheitsbürger mit DDR-Vergangenheit gestern wieder "Republikgeburtstag!" gedacht, auch wenn er dieses Datum nie für einen Feiertag gehalten hat. Haben denn unsere Ur- und Großeltern je Kaisers Geburtstag vergessen, nur weil sie auf ihrer Lebensreise durch die deutschen Staatsformen des Jahrhunderts - Monarchie, Weimarer Republik, Drittes Reich - inzwischen in der DDR angekommen waren? Der Mensch ist das vergangenheitsfähige, also auch das latent anachronistische Tier.

Eine Spirituosenfirma hat diese Merkwürdigkeit unseres Erinnerns längst zum Anlass einer jährlichen Jubiläumsschnapsedition genommen. Im letzten Jahr hieß die Vier-Flaschen-Box "Fast 58 Jahre DDR. Ich trinke Euch doch alle!" In Erinnerung an die letzten Worte des obersten Stasi-Befehlshabers Mielke an sein verlorenes Land: "Ich liebe euch doch alle."

Und der letzte 7. Oktober, den die DDR erlebte - sie wurde gerade vierzig -, war doch gar nicht übel. Ohne ihn hätte es wiederum den 9. Oktober 1989 nicht gegeben. Jedenfalls nicht so.

Der 7. Oktober 1989 war ein Sonnabend, und die Partei- und Staatsführung hatte sich den runden Geburtstag ihrer Volksrepublik vom Volk stören lassen müssen. Das Geburtstagskind hatte geknüppelt und verhaftet und "zugeführt" wie noch nie, aber doch unterm Tischtuch, schon wegen der Geburtstagsgäste, unter denen Michail Gorbatschow der populärste war. Das Volk rief "Gorbi! Gorbi!".

Auch in diesem Jahr war aus gegebenem Anlass des deutsch-deutschen Feiertages wieder zu lesen, dass die Ostler gewissermaßen ein vorironisches Volk seien. Aber wie sonst soll man in Diktaturen frei reden, wenn nicht ironisch? Es gibt nicht viele Möglichkeiten, alles zu sagen, ohne dass einem etwas nachgewiesen kann. Insofern war die Ironie die bevorzugte Kommunikationsform Ost, und auch die Rufer des 7. Oktober genossen die grenzenlose Freiheit ihrer Rede, denn für den Lobpreis des sowjetischen Generalsekretärs durfte man selbst in der DDR noch nicht verhauen werden. Aber wo Gorbatschow nicht war - etwa an der Berliner Gethsemanekirche im Prenzlauer Berg -, da griff die Staatsmacht mit offener Brutalität zu.

Wer gestern und vorgestern zur Hauptsendezeit Sat.1 eingeschaltet und den TV-Zweiteiler über die Wende gesehen hat, der weiß das. Aber welcher taz-Leser macht das schon? Wahrscheinlich sehen nur die Abonnenten anderer Presseerzeugnisse Filme, die "Wir sind das Volk. Liebe kennt keine Grenzen" heißen. Das rechtfertigt den taz-Leser, das macht ihn so schön, aber diesmal ist es doch ein wenig schade. Denn auch wenn die Rahmenhandlung den Titel noch übertraf - in seinen Zwischenräumen, den historischen Haupträumen also, war er erstaunlich genau gearbeitet.

Nie wieder, beschloss das Geburtstagskind, würde es sich seinen Geburtstag verderben lassen. "Niederschlagung der Konterrevolution", formulierte Erich Honecker die Aufgabe der Stunde. Und jeder im Lande ahnte, wann die schlagen würde. Schon zwei Tage später in Leipzig. Am 9. Denn der 9. war ein Montag.

Die Montagskerzengänger um die Nikolaikirche waren zuletzt immer mehr geworden. Am Montag vorher, am 2. Oktober, waren 10.000 gekommen und die Polizei hatte ihren Zug gewaltsam aufgelöst. Den Montag konnte man nicht aufhalten, nicht verschieben. Es sei denn, es würde vor Angst diesmal keiner kommen.

Natürlich ist das hier keine Geschichte(n)erzähler-Rubrik. Aber wer künftig den 3. am 9. Oktober begehen will, muss die Geschichte dieses Tages so genau wie möglich kennen.

Am Morgen des 9. Oktobers 1989 verabschiedeten sich in Leipzig Kinder von ihren Eltern und Eltern von ihren Kindern. So, dass es notfalls für immer reichen würde. In den Außenbezirken der Stadt standen Panzereinheiten. Messehallen und die Landwirtschaftsausstellung in Markkleeberg waren zu Internierungslagern geworden. Eine Leipziger Schuldirektorin hatte schon am Morgen alle Schüler wieder nach Hause geschickt, denn: "etwas Schlimmes" würde heute geschehen. Das Sankt-Georgs-Krankenhaus räumte eine ganze Station für die Verwundeten des Abends. Die Ärzte und Schwestern des Universitätsklinikums erfuhren, dass sie sich besonders auf Schlag- und Schussverletzungen einzustellen hatten. Leichenwagen wurden bereitgestellt. Die 21. Volkspolizeibereitschaft "Arthur Hoffmann" erhielt den Befehl, anstelle der neuen die alten Kampfanzüge zu tragen wegen der farbigen Flüssigkeit in den Wasserwerfern zur "Markierung" der Fliehenden.

Beim Schlusschoral der allmontäglichen Andacht öffnete Pfarrer Christian Führer die Türen seiner Kirche, und was er sah, war - ein biblisches Wunder. Der Vorplatz schwarz von Menschen und hell von Kerzen. Die Mutigen und die Ängstlichen, die Entschlossenen und die Zögerlichen, alle waren gekommen, weil sie wussten, dass nur ihre Zahl ihnen eine Chance geben würde.

70.000, wird man später wissen, strömten - meist stumm - langsam auf den Innenstadtring. Und man musste nicht Christ sein, um die Hand Gottes über diesem Zug zu spüren. Ohne Anführer, ohne festgelegte Route, ohne Programm, an den schreckstarren Polizeiketten vorbei. 70.000 - das lag jenseits des Vorstellbaren. Es machte alle Einsatzpläne zu Papier. Und diesen Tag haben wir vergessen.

Ralf Dahrendorf nannte den Herbst 1989 einmal die "erfolgreichste Revolution der Moderne". Dass sie friedlich werden würde - welche Revolution wäre das je gewesen? - war nie so unwahrscheinlich wie an jenem 9. Oktober, diesem Schicksalstag, den die Deutschen nicht zu ihrem Nationalfeiertag gemacht haben. Weil der größere Teil des vereinigten Landes noch nicht darin vorkam? Vielleicht muss man Deutscher sein, um so kleinlich denken zu können.

Ein paar unvergleichliche Monate lang lag die Macht auf der Straße. Die alte Bundesrepublik hat sie aufgehoben. Denn Politiker ist, wer einen solchen Anblick nicht ertragen kann. Am 3. Oktober 1990 war das Herbstvolk 89 nur noch Beitrittsvolk.

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