piwik no script img

Türkische Gruppierung "Ergenekon"Mutmaßliche Putschisten vor Gericht

Am Montag beginnt in Istanbul der Prozess gegen 86 Angeklagte der "Ergenekon"-Gruppe. Sie sollen den Sturz der türkischen Regierung geplant und Anschläge verübt haben.

"Ergenekon" soll den Sturz der islamisch grundierten AKP-Regierung von Premier Tayyip Erdogan zum Ziel gehabt haben. Bild: dpa

ISTANBUL taz Am Montag beginnt in einem Vorort von Istanbul eines der spektakulärsten Verfahren, das die Türkei je erlebt hat. Unter strengen Sicherheitsvorkehrungen, in einem zum Gerichtssaal umgebauten Trakt im Gefängnis, werden 86 Männer und Frauen angeklagt, einen bewaffneten Umsturz geplant und zur Vorbereitung mehrere Terroranschläge verübt zu haben.

Bekannt geworden ist die Gruppierung unter ihrem Codenamen "Ergenekon" - einem mythischen Tal in Zentralasien, von wo aus einer türkischen Sage zufolge die Vorväter zu ihrem Siegeszug in der Welt antraten. Ergenekon soll den Sturz der islamisch grundierten AKP-Regierung von Premier Tayyip Erdogan zum Ziel gehabt haben, indem die Gruppe durch Anschläge das Land so weit destabilisiert, dass das Militär genügend Legitimation für einen Putsch hat.

Zu diesen Anschlägen zählt die Staatsanwaltschaft den Mord an einem hohem Verwaltungsrichter und einen Anschlag auf die Zeitung Cumhuriyet - zwei Terrorakte für die Islamisten belangt wurden, die aber tatsächlich auf das Konto von Ergenekon gehen könnten. Ob das auch für den Mord an dem armenischen Publizisten Hrand Dink gilt, lässt die Anklage noch offen.

Unter den Angeklagten sind Exmilitärs, bekannt rechtsradikale Nationalisten wie der Anwalt Kemal Kerencsiz, auf dessen Initiative unter anderem Orhan Pamuk wegen Beleidigung des Türkentums angeklagt wurde, aber auch linke Nationalisten.

Der delikateste Teil des Prozesses wird sich darum drehen, welche Beziehungen die Ergenekon-Verschwörer zum Militär wirklich hatten und inwieweit hohe Ränge in die Putschvorbereitungen eingeweiht waren. Es könnte aber auch sein, dass gerade diese Frage gar nicht auf die Tagesordnung kommt.

Die beiden höchstrangigen Militärs, die während der Ermittlungen festgenommen wurden - die Ex-Vier-Sterne-Generäle Sener Eruygur und Hursit Tolon - Eruygur war als Chef der Gendarmerie Mitglied des Generalstabs - gehören nicht zu den Angeklagten. Der höchste angeklagte Militär ist Veli Kücük, der in den 90er-Jahren den Geheimdienst der Gendarmerie, Jitem, gegründet hat und für die meisten extralegalen Hinrichtungen im Kampf gegen die PKK verantwortlich ist.

In der türkischen Öffentlichkeit wird schon spekuliert, dass die Regierung sich mit der Militärführung darauf geeinigt hat, dass die höchsten Militärränge unbehelligt bleiben und dafür der Rest der Bande verurteilt werden kann. Das würde die größte Brisanz herausnehmen, bliebe aber immer noch spektakulär. Denn Veli Kücük und seinen Gefolgsleuten wird neben den genannten Anschlägen vorgeworfen, etliche weitere politische Morde geplant zu haben. Auf der Todesliste ganz oben soll Orhan Pamuk gestanden haben, der deshalb nur noch mit Leibwächtern aus dem Haus gehen kann, sowie prominente kurdische Politiker wie der Vorsitzende der DTP, Ahmet Türk.

Aufgrund der großen Zahl der Angeklagten wird mit einem jahrelangen Prozess gerechnet. Allein die Verlesung der Anklage dürfte Monate dauern. Es besteht die Gefahr, dass der Prozess zerfasert und sich im Sande verläuft. Daran dürfe auch die Staatsanwaltschaft nicht ganz unschuldig sein. Immer wieder ist kritisiert worden, dass die Anklage sehr unpräzise sei und die Beweissicherung mangelhaft war. Vertreter der Opposition werfen der Regierung zudem vor, sie hätte durch Verhaftungen von Leuten, deren gemeinsames Merkmal lediglich sei, dass sie scharfe Kritiker der AKP sind, eine Atmosphäre der Einschüchterung und Angst geschaffen.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!