piwik no script img

Debatte Norman BirnbaumDie Schwelle, an der wir stehen

Kommentar von Norman Birnbaum

Sollte Obama gewinnen, haben die USA die Chance, ihr Denken dem 21. Jahrhundert anzupassen. Gewinnt McCain, dann gilt der Satz Dantes: "Lasset alle Hoffnung fahren".

D ie amerikanischen Wahlen haben schon jetzt begonnen. Bis zum Wahltag am 4. November werden sich drei von zehn Wählern für einen Kandidaten entschieden haben. In Reaktion auf die exzellente Organisation von Barack Obamas Wahlkampagne sind die Republikaner zur selben Strategie übergegangen, die sie schon beim ambivalenten Wahlsieg von 2004 und im Jahr 2000 angewendet haben, um die Wahl zu stehlen: Systematisch blockieren sie den Zugang wahrscheinlich demokratisch wählender Bürger zum Wahlsystem.

Die von Demokraten geführte Regierung des Bundesstaats Ohio befindet sich bereits in einem Rechtstreit darüber. In einem Wettkampf, in dem es für beide Kandidaten wahrscheinlich sehr eng werden wird, sind diese Fragen genauso wichtig wie der Zusammenprall von Persönlichkeiten, Interessengruppen und Ideen.

NORMAN BIRNBAUM, 1926 in New York geboren, war Professor für Soziologie an der Georgetown University in Washington, D. C., und Berater von Robert sowie Edward Kennedy. Er schreibt regelmäßig u. a. für The Nation und El País.

Wenn wir den Umfragen Glauben schenken, liegt Senator Obama mit einem erheblichen Vorsprung bundesweit vor McCain - und hat sogar gute Umfragewerte in den Staaten, die früher traditionell republikanisch gewählt haben. Das Problem ist nur, dass man diesen Zahlen nicht trauen kann. Jede Umfrage wendet ihre eigene Methode an.

Wir können nicht wissen, wer von den Befragten tatsächlich zur Wahl gehen wird. Und die acht Prozent der Wähler, die sich selbst noch als "unentschlossen" bezeichnen, haben sich eventuell schon längst entschieden, und mitunter gegen Obama, weil er zur Hälfte ein Schwarzer und zu gebildet ist oder auf andere Weise bedrohlich wirkt. Obama und seine Berater ruhen sich in jedem Fall nicht selbstzufrieden auf ihren Lorbeeren aus. Und auch McCain ist trotz seiner wenig überzeugenden Leistung im letzten Fernsehduell immer noch der Meinung, dass er diese Wahl gewinnen kann.

Die Wirtschaftskrise hat Obama einen Vorteil verschafft, indem sie McCains ohnehin vollkommen dubiosen Qualifikationen auf dem Gebiet der Verteidigungspolitik irrelevant gemacht hat. Obwohl die Republikaner die historische Sozial- und Wirtschaftspolitik des New Deal kontinuierlich angegriffen haben, obwohl die Demokraten ihr sozialdemokratisches Erbe verleugnet haben und obwohl die kollektive Erinnerung an die Errungenschaften des Rooseveltschen New Deal weitgehend ausgelöscht wurden: Eine Mehrheit der Amerikaner versteht den Staat immer noch als einen Rückhalt gegen Verarmung und als eine unabdingbare Instanz, die ihnen Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung ermöglicht.

Die unnachgiebige Beschleunigung der Wirtschaftskrise hat viele Wähler nicht nur an den Wohlstand erinnert, der ihnen abhandenzukommen droht, sondern auch an die Jahrzehnte der langsamen Senkung ihres Lebensstandards, die der jetzigen Wirtschaftskrise vorangingen. Franklin D. Roosevelt entschied die Wahlen 1932 nach drei Jahren anhaltender Rezession für sich; Barack Obama könnte dieses Jahr aufgrund extremer Angst vor einer ähnlichen Entwicklung gewinnen.

Dessen ungeachtet bestehen große Unterschiede zwischen den Wahljahren 1932 und 2008. Erstens verfügt heute der hoch verschuldete US-amerikanische Staat nicht über dieselbe wirtschaftliche Souveränität. Sollten asiatische, arabische und europäische Staaten, einzeln oder getrennt, ihre US-Schatzbriefe als ökonomisches oder politisches Druckmittel einsetzen, würde jede US-Regierung diesen Forderungen angesichts eines drohenden Staatsbankrotts nachkommen.

Zweitens hat unsere waghalsig unverantwortlich agierende imperiale Elite den Staat mit einem kolossalen Militärbudget belastet. Kurz bevor über das 700 Milliarden Dollar umfassende Bankenrettungspaket debattiert wurde, das Präsident Bush sowie der Finanzminister und ehemalige Goldman-Sachs-Vorsitzende Henry Paulson vorgeschlagen haben, hat der amerikanische Kongress widerspruchslos einer Mittelzuteilung für das Pentagon zugestimmt, die fast ebenso hoch war.

Prekärerweise beinhaltete diese nicht einmal die außerordentlichen Kosten der Katastrophe im Irak und des Debakels in Afghanistan. Die Idee, unsere Verteidigungskräfte zu reduzieren, um für sinnvolle Sozialausgaben zu zahlen, ist für amerikanische Politiker nicht plausibel.

Drittens verbindet sich der Verdacht vieler Amerikaner, dass sie von den Wirtschaftsexperten betrogen wurden, nicht mit einem kohärenten Überblick über ökonomische und soziale Alternativen. Die Bürger, die von den staatlichen Renten des Social-Security-Systems und der Seniorenkrankenversicherung Medicare abhängen, sind intellektuell nicht in der Lage, vom Erfolg dieser Programme die generelle Notwendigkeit eines größeren Sozialstaats abzuleiten.

Die Republikaner ihrerseits haben Obama fälschlicherweise als "Linken" beschrieben. Dabei ist er ein hochintelligenter und vorsichtiger Technokrat, dessen Idee des "Wandels" Amerikas davon bestimmt ist, welches Amerika die Unterstützung eines Eliteabsolventen der Harvard University verdient hat. Das ist sehr viel besser als McCains zunehmend verworrener Dusel. Aber es ist absolut unklar, ob das ausreichen wird, um der sich vertiefenden Krise Herr zu werden. Sollte McCain Präsident werden, fielen mir nur Dantes Worte ein, mit denen er die Pforte zur Hölle beschreibt: "Wer hier eintritt, lasse alle Hoffnung fahren".

Es ist an der Zeit, dass Europa sich nicht nur als unabhängig von den Vereinigten Staaten versteht, sondern mehr noch sich zutraut, auch Einfluss auf den großen Bruder auszuüben. Frankreich und Deutschland haben bereits den Grundstein dafür gelegt, indem sie sich verweigerten, Georgien als ein unschuldiges Opfer von Russlands Raubzug anzuerkennen und der Aufnahme der Ukraine in die Nato zuzustimmen.

Das Ende der aussichtslosen Militärpräsenz in Afghanistan, Druckausübung für das Ende der Besatzung Iraks und die Abkopplung Europas von den geopolitischen Funktionsstörungen und moralischen Lasten der amerikanischen Allianz mit Israel - das wäre eine Politik, die einen Präsidenten Obama dazu zwingen könnten, auf innovative Berater zu hören. Wenn McCain Präsident wird, würden ihn solche europäischen Initiativen zur Weißglut bringen - diese Wut jedoch bliebe eine ohnmächtige.

Allerdings ist es nicht ausgeschlossen, dass es davor zu einem anderen Problem kommt: Nehmen wir einmal an, dass das Bush-Cheney-Kabinett - trotz der offensichtlichen Gräben in der imperialen Elite und trotz der Anflüge von Rationalität, die Verteidigungsminister Robert Gates und Außenministerin Condoleezza Rice gelegentlich haben - sich dazu entschließt, McCain unter die Arme zu greifen, indem es zum Beispiel einen militärischen Konflikt mit dem Iran lostritt. Natürlich ist das alles nur Spekulation.

Nicht spekulativ aber ist die Tatsache, dass eine Wiederbelebung des europäischen Sozialmodells im Rahmen eines Aufbaus neuer, internationaler Wirtschaftsinstitutionen beträchtliche Auswirkungen auf unsere heimischen Debatten hätte. Die Faszination, die Europa unseren Wahlen entgegenbringt, legt nahe, dass es etwas verstanden hat, mit dem wir uns als Amerikaner schwertun: die Tatsache nämlich, dass die alten Trennlinien zwischen Innenpolitik und internationalen Beziehungen keinen Sinn mehr ergeben.

Man muss schauen, ob das diesjährige Wahlergebnis und die daraus resultierende neue Richtung der amerikanischen Politik eine neue Art von transatlantischer Politik ermöglichen - oder aber, ob sich die schon existierenden Gräben endgültig vertiefen.

Aus dem Amerikanischen von Daniel Schreiber

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • S
    Shrike

    Der Kommentar enthält meines Erachtens nach viel richtiges und auch ich schätze Barak Obama als den besseren Präsidenten in dieser Krise ein.

     

    Allerdings:

     

    1.So weit ich weis, sind die Wahlen 2004 relativ fair und ordentlich gewesen, damals hat Bush wohl verdient gewonnen.

    Falls der Autor hier andere Fakten hat, soll er sie auch nennen, anstatt die Republikaner nur mal so eben als ständige Betrüger darzustellen.

     

    2.Auch McCain hat Berater.

    Ob die Wahl McCains wirklich so verheerend wäre bzw. die Wahl Obamas so viel besser ?

     

    Vielleicht, aber der Kommentar ist arg einseitig und stellt die Republikaner als völlig unfähig dar.

    Dem würde ich mit Bezug auf die Bush-Regierung sogar weitgehend zustimmen.

    Ob aber McCain nicht doch etwas anders machen würde ?

     

    Mich stört die Art, wie hier berichtet und kommentiert wird, ein bisserl ausgewogener könnte es schon zugehen.

     

    3. Und was ganz sicher fragwürdig ist, ist die offenbar in linken Kreisen schon recht festgefahrene Behauptung, dass die (weißen) Wähler Obama eigentlich nur oder fast nur wegen dessen Hautfarbe, Namen oder seiner Indonesien-Zeit verschmähen könnten.

     

    So legt man sich einerseits schon mal eine Ausrede für den Fall einer Niederlage zurecht, andererseits stellt man sich als einzig wahre, nicht-rassistische Partei dar.

     

    Bezeichnenderweise wird nicht darüber gesprochen, dass im Falle eines aüßerst knappen Kopf-an Kopf-Rennens auch der Umstand eine Rolle spielen könnte, dass andersherum die schwarzen Wähler aus rassistischen Gründen McCain verschmähen könnten, da ja diesmal erstmalig ein nicht-weißer Kandidat als Alternative bereitsteht.

     

    Womöglich werden die meisten schwarzen Demokraten nicht so denken, aber die Möglichkeit besteht immerhin, zumal im ersteren Falle die Linken nur ungern andere Gründe in Betracht ziehen, weshalb die weißen Wähler (insbesondere Konservative auf dem Lande) McCain vorziehen könnten.

     

    Die Behauptung:

    Weißer Nicht-Obama-Wähler = Rassist

    ist jedenfalls erpresserisch, undemokratisch und platt.