"So viele Jahre liebe ich dich": Vom Thriller zur Schmonzette
Das Spielfilmdebüt des Romanautors Philippe Claudel wäre fast ein raffinierter Thriller geworden. Doch die letzten Minuten geben dem Film leider eine vollkommen andere Richtung.
Seit Donnerstag ist in den Kinos ein interessanter Neuzugang in der Kategorie "Filme, die offenbar nie vor Testpublikum vorgeführt wurden", zu sehen. Unterkategorie: "Filme, die am Ende genau fünf Minuten zu lang sind". Es gibt immer wieder solche Filme, bei denen man sich fragt, warum der Cutter nicht auf die Idee kam, die letzten Minuten des Films zu löschen.
Die große Kristin Scott Thomas spielt in "So viele Jahre liebe ich dich" (Regie: Philippe Claudel) eine Mittvierzigerin, die nach 15 Jahren Gefängnis wieder in Freiheit kommt und vorläufig bei ihrer jüngeren Schwester und deren Familie - Mann, zwei Adoptivkinder, stummer Schwiegervater (Schlaganfall) - Unterschlupf findet. Zu Adaptionsschwierigkeiten kommt es nicht nur, weil der Schwager ihr mit Misstrauen begegnet, sondern auch, weil sich die beiden Schwestern kaum kennen: Léa (mit ewig verliebtem Blick: Elsa Zylberstein) war noch fast ein Kind, als Juliette (souverän: Scott Thomas) ins Gefängnis kam. Irgendwann en passant erfährt man: Juliette hat damals ihr sechsjähriges Kind getötet.
Léas Kinder schließen Juliette schnell ins Herz, auch gibt es bald zwei Männer, die sich um ihre Zuneigung bewerben, sie findet eine Anstellung als Sekretärin - das Leben kommt also wieder in Gang. Dennoch scheint Juliette Freiheit immer nur dann zu spüren, wenn sie mit leerem Blick in die Ferne starren und dabei an einer Zigarette saugen kann - allein mit sich und einem großen Geheimnis.
Die Charakterisierung des Verhältnisses von Léa und Juliette sorgt dafür, dass der Film trotz einiger Längen nicht die Spannung verliert. Oft wirken die Schwestern eher wie Mutter und Kind, in anderen Szenen wie Zwillinge. Einmal sitzen sie gemeinsam am Klavier und spielen "Il y a longtemps que je taime", Léa die rechte Hand, Juliette die linke. Kurz kommt der Verdacht auf, Léa könne mit Juliettes Verbrechen etwas zu tun haben. Entscheidend ist hier Scott Thomas fantastisch und doppelbödig schwebendes Spiel: Man traut Juliette ohne weiteres Blutrunst zu, auch unvorhersehbare Ausraster. Wenn Léa und ihr Mann einmal gleichzeitig aus dem Haus müssen und die Haushälterin verhindert ist, wenn also nur noch Juliette und der Opa als Kindshüter übrig bleiben, beginnt man zu bibbern: Wird jetzt wieder das Monster in Juliette erwachen?
Doch dann kommen eben diese desaströsen letzten fünf Minuten. In ihnen müssen plötzlich mit unfassbarer Plattheit die letzten Geheimnisse gelüftet werden, müssen nach allen Regeln des Schmierentheaters und der Küchenpsychologie tiefe Mutterwahrheiten in erschütternd pathetische Phrasen gepackt werden.
Man ahnt zwar, dass in diesen Sätzen der Nukleus des Films steckt. Doch sollte man von einem Regisseur wie Philippe Claudel - es ist seine erste Filmarbeit, normalerweise ist er erfolgreicher Romanautor ("Die grauen Seelen") - erwarten dürfen, mit dem Prinzip "Kill your darlings" vertraut zu sein: Trenne dich von dem, was dir am Allerwichtigsten erscheint, denn in den meisten Fällen ist es das Verzichtbarste.
Die Gebrauchsanweisung für "So viele Jahre liebe ich dich" muss deswegen lauten: Wenn nach zirka 105 Minuten die Stelle kommt, an der die achtjährige Ptit Lys auf dem Sofa liegt und ihrer Tante Juliette aus einem Märchenbuch vorliest und wenn dann das Telefon klingelt und der Doktor dran ist: Rausgehen! Schnell! Dann hat man einen fast raffinierten Thriller gesehen und keine seifige Schmonzette.
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