Debatte Weltbank-Entwicklungsbericht: Von Märkten und Menschen

Der "Weltentwicklungsbericht" der Weltbank betrachtet die Wanderung zwischen Land und Stadt als Chance. Die Chancen der einzelnen Migranten klammert er aus.

Der diesjährige "Weltentwicklungsbericht" der Weltbank, der am 12. November in London der Öffentlichkeit präsentiert wurde, geht dem Einfluss räumlicher Gegebenheiten auf wirtschaftliche und soziale Entwicklung nach - und das auf drei Ebenen: der lokalen, der nationalen und der internationalen. Besonderes Augenmerk richten die Autoren dabei auf die Migration zwischen Stadt und Land und jener zwischen wachsenden und schrumpfenden Regionen. Wie jedes Jahr, wird auch diese Themenwahl der Weltbank die entwicklungspolitischen Debatten der nächsten Jahre maßgeblich beeinflussen.

"Let markets pick the places" - "Lasst den Markt die Orte auswählen" -, diese Empfehlung bildet eine der Grundaussagen des Berichts. Die Migration von rückständigen in wachsende Regionen und vom Land in die Städte (die übrigens zahlenmäßig die grenzüberschreitende Mobilität weit übersteigt) sehen sie überwiegend positiv. Dies ist ein klarer Kontrast zu der negativen Sicht solcher Wanderungsbewegungen, die in Politik und weiten Teilen der Öffentlichkeit vorherrscht. Glaubt man ihrem Bericht, birgt die Migration für die Ziel- wie für die Herkunftsregionen der Migranten viele Chancen. Die Zielregionen werden im Bericht idealtypisch als Wirtschafts- und Wissenscluster des modernen Industrie- und Dienstleistungssektors gezeichnet. Sie können über Migration ihren Bedarf an (gut ausgebildeten) Arbeitskräften decken. Die Herkunftsregionen wiederum profitieren von Rücküberweisungen der Migranten, von Information und ihrem Know-how: eine Win-Win-Situation.

Die Unterschiede im Wohlstandsniveau, die durch solche Wanderungsbewegungen noch schärfer hervortreten, seien nicht nur das Resultat einer Entwicklung, die quasi naturgesetzlich ungleich verlaufe. Das Beispiel der USA sowie anderer Industrieländer zeige vielmehr, dass sich die Zusammenballungen in Metropolen und Wirtschaftszentren langfristig auch positiv auf die Lebensbedingungen in peripheren ländlichen Regionen auswirke.

Diese These fand sich in ähnlicher Form bereits vor 30 Jahren in den sogenannten Wachstumspoltheorien. Als sich Entwicklungspolitik dann aber anschickte, in vielen Ländern des Südens solche "Wachstumspole" zu fördern, blieben die erwarteten positiven Wirkungen auf den ländlichen Raum allerdings aus.

Der Weltentwicklungsbericht argumentiert nun: Voraussetzung dafür, dass die Migration ihre positiven Wirkungen voll entfalte, sei zum einen, dass die "richtigen", also das Wirtschaftswachstum fördernden, Bevölkerungsgruppen wandern - und zum anderen eine "richtige" Politik und rechtliche Rahmenbedingungen, die Wirtschaftszentren und Migration fördern. Rückständige Gebiete sollen nur in Ausnahmefällen gezielt gefördert werden, denn diese Art von Strukturpolitik sei in der Regel kontraproduktiv (an dieser Stelle verweist der Bericht auf europäische Beispiele, insbesondere die Fehlschläge in Ostdeutschland).

Beeindruckend an diesem Weltbankbericht ist, wie er mit Beispielen aus aller Welt jongliert und am Ende die komplexe Vielfalt von Wanderungsströmen in Amerika, Europa, Asien und Afrika scheinbar widerspruchslos in ein eingängiges Erklärungsschema bringt. Nebenbei werden den analysierten Prozessen gleich noch wertende Etiketten aufgeklebt ("gute Migration", das sei die Migration ausgebildeter Fachkräfte in die Zentren von Innovation, "schlechte Migration" die Flucht vor unerträglichen Lebensbedingungen). Und dann werden von dieser Analyse Handlungsempfehlungen für alle Länder der Welt abgeleitet, wie Regierungen mit Migration und dem Stadt-Land-Verhältnis künftig umgehen sollten. Nur: Lassen sich die Beispiele industriellen Aufstiegs in Singapur, Südkorea und Chinas Ostküste, wo in der Tat Migration in aufstrebende "Industrie- und Dienstleistungscluster" stattgefunden hat, nahtlos auf die Länder Afrikas südlich der Sahara, auf Indonesien oder auf Usbekistan übertragen?

Sicher nur, wenn man einen großen Teil der Realität ausblendet und sich auf die volkswirtschaftliche Sicht - also auf die Vogelperspektive - beschränkt. Die Empfehlung "Let markets pick the places" überrascht auch angesichts aktueller Versuche, die nationalen und internationalen Finanzmärkte zu regulieren. Sie erinnert zudem fatal an das für viele Entwicklungsländer "verlorene Jahrzehnt" der 1980er-Jahre, als die ökonomischen "Schocktherapien" von IWF und Weltbank zu wachsender Verelendung in den Städten sowie einem Rückgang der Nahrungsmittelproduktion und zu Hungersnöten auf dem Lande führten. Am stärksten waren die ärmsten Länder Afrikas und Asiens betroffen.

Damals mahnte der indische Entwicklungsökonom und Nobelpreisträger Amartya Sen, fortan den Menschen als Ausgangspunkt und Ziel von Entwicklung zu sehen. Lässt man sich auf diese Perspektive ein, kommen viele Wahrheiten über die Migration ans Licht.

Eine davon ist die von Herrn Bakhtiar, der in Jakarta als fliegender Kleinhändler arbeitet. Seit zehn Jahren verkauft er Sandalen, Moskitoschutz, Werkzeug und allerlei Kleinkram an die Passagiere in den Vorortzügen von Jakarta. Zwölf Stunden ist er jeden Tag unterwegs, ein typischer Job im informellen Sektor. Herr Bakhtiar verdient genug Geld, um regelmäßig etwas davon an seine Familie nach Ostjava zu schicken. Dort lebt seine Frau mit den Kindern; die Frau baut Gemüse an und zahlt mit dem Geld, das ihr Mann ihr schickt, den Schulbus und das Schulessen für die Kinder.

Ist das "schlechte" Migration im Sinne des Weltentwicklungsberichts? Möglicherweise. Herr Bakhtiar ist weder gut ausgebildet, noch arbeitet er in einem aufstrebendem innovativen Cluster. Und doch: Nur die Abwanderung nach Jakarta und nur die Kombination von landwirtschaftlicher Kleinproduktion mit dem Kleinhandel in der Stadt ermöglichen es ihm, seine Familie zu ernähren und seine Kinder auf die Schule zu schicken. Das bedeutet ein bisschen Menschenwürde, eine kleine Chance zum sozialen Aufstieg für seine Kinder.

Haushalte wie den von Herrn Bakhtiar gibt es viele Millionen in Entwicklungsländern. Bewusst nutzen sie die ökonomischen Möglichkeiten zweier Standorte, eines städtischen und eines ländlichen, um über die Runden zu kommen: man nennt sie multilokale Haushalte.

Im Weltentwicklungsbericht steht davon nichts. Doch staatliche Politik und auch die Entwicklungszusammenarbeit wären gut beraten, den Erfindungsreichtum der Familien, deren Haushalt zwischen Stadt und Land geteilt ist, ernst zu nehmen.

Die Politik sollte diese Menschen dabei unterstützen, die Kluft zwischen Stadt und Land in ihrem Alltagsleben leichter zu bewältigen. Herrn Bakhtiar würde das wahrscheinlich mehr helfen als eine Strategie seiner Regierung, die neue Industriestandorte und "Hightech-Cluster" zu entwickeln trachtet.

EVA DICK

EINHARD SCHMIDT-KALLERT

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