Sicherheitsmängel in Biblis: Verstrahlter Goldesel

Der Atomreaktor Biblis B soll erst 2013 vom Netz. Bürgerrechtler kritisieren, dass der Meiler schon jetzt eine große Gefahr darstelle. Ihre Klage hat gute Chancen, erfolgreich zu sein.

Biblis B hat große Sicherheitsmängel. Eigentlich ein guter Grund das Atomkraftwerk abzustellen. Bild: ap

Laufzeitverlängerung. Ausstieg aus dem Ausstieg. Investitionen in Milliardenhöhe. Wenn der Stromriese RWE über sein Atomkraftwerk im hessischen Biblis spricht, dann redet er über dessen große Zukunft.

Biblis A ging 1975 ans Netz, Biblis B folgte 1977. Der hessische Wirtschaftsminister hielt seinerzeit zwei weitere Blöcke für nötig. Gegen Biblis C erhoben 55.000 BürgerInnen Einwendungen. Das Genehmigungsverfahren für Block C wurde dann abgebrochen. 1980 stellte RWE erneut einen Genehmigungsantrag, nach 26.000 Einwendungen beantragte der Konzern 1984, das Verfahren ruhen zu lassen. 1994 verkündete der damalige hessische Umweltminister Joschka Fischer, Biblis C sei nicht genehmigungsfähig . Wegen fehlerhaft montierter Dübel blieben Biblis A und B von 2006 an über ein Jahr abgeschaltet.

Über die nächsten Jahre, Jahrzehnte, in denen die beiden Reaktoren, einst die weltgrößten, heute mit die ältesten, weiter Strom produzieren sollen. Mit abgeschriebenen Atomreaktoren lässt sich richtig Geld verdienen. Sie sind wie Goldesel. RWE hofft, dass die nächste Bundesregierung dem Weiterbetrieb dieses Goldesel zustimmt. Akutes Sicherheitsrisiko. Dynamischer Grundrechtsschutz. Pflicht zur Stilllegung.

Wenn Dörte Siedentopf über Biblis B spricht, dann redet sie über eine Zukunft ohne den Reaktor. Dem "Atomkonsens" zufolge müsste der Meiler zwischen Mannheim und Darmstadt frühestens 2013 vom Netz. Darauf will Siedentopf sich nicht verlassen. Die pensionierte Ärztin, Mitglied der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW), verfolgt einen eigenen Ausstiegsplan. Sie will das hessische Umweltministerium zwingen, die Betriebserlaubnis für Biblis B zu widerrufen, weil das Atomkraftwerk schon lange nicht mehr dem Stand von Wissenschaft und Technik entspricht. Schließlich ging der Meiler 1977 ans Netz. Und Biblis B sei eine unzumutbare Gefahr für Leben und Gesundheit der Menschen in der ganzen Rhein-Main-Region. Mehrere hundert Seiten dick ist die Klageschrift, die die IPPNW und die Bürgerinitiative "Biblis abschalten" im Namen von Dörte Siedentopf und zwei weiteren Nachbarn des Kraftwerks am Freitag beim Hessischen Verwaltungsgerichtshof in Kassel einreichen.

210 schwerwiegende Mängel an der Konstruktion, der Auslegung und dem Zustand des umstrittenen Atomreaktors haben die Kläger zu Papier gebracht: von der unzureichenden Erdbebenfestigkeit über haarsträubende Fehler bei sicherheitsrelevanten elektrischen Arbeiten bis hin zur Gefahr von Wasserstoffexplosionen, die den Sicherheitsbehälter zerstören können.

Im Gegensatz zu vielen anderen Prozessen gegen Atomkraftwerke wurden daher von vornherein ausschließlich Mängel aufgeführt, die der TÜV, die Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) oder die Behörden selbst in den Akten benannt hätten.

"So eine Klage hat es bisher noch nicht gegeben", sagt Henrik Paulitz, Atomexperte der IPPNW.

Rechtlich stützen sich die AtomkraftgegnerInnen auf das Kalkar-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1978 und das Wyhl-Urteil des Bundesverwaltungsgerichts von 1985. Die Verfassungsrichter erklärten zwar die Nutzung der Atomkraft an sich für zulässig, banden diese aber wegen der Gefährlichkeit der Technik an strenge Auflagen.

Demnach müssten die Sicherheitsvorkehrungen in Atomanlagen so umfassend sein, dass alle konkret denkbaren Unfälle nicht zur Katastrophe führten. Lediglich Unfallszenarien jenseits der "Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens" ordneten die Richter dem hinzunehmenden "Restrisiko" zu. Maßgeblich für das erforderliche Sicherheitsniveau der Anlagen, entschieden sie, sei der im Atomgesetz explizit geforderte "Stand von Wissenschaft und Technik". Dass sich dieser beständig weiterentwickeln würde, war den Verfassungsrichtern dabei sehr wohl bewusst. Mit dem sogenannten "dynamischen Grundrechtsschutz", also einer Anpassung des Grundrechtsschutz an die sich ändernde Technik, präzisierte das Gericht, was für die Bevölkerung entscheidend ist: die "bestmögliche Gefahrenabwehr und Risikovorsorge". Das war Sinn und Zweck der Vorschrift. Das Bundesverwaltungsgericht führte diese Anforderung dann 1985 in seinem Urteil zum geplanten südbadischen Atomkraftwerk Wyhl weiter aus. Anders als in anderen Genehmigungsverfahren genieße eine nach dem Atomrecht genehmigte Atomanlage keinen Bestandsschutz, schrieben die Richter.

Die Betriebsgenehmigung könne vielmehr widerrufen werden, wenn es nach der Genehmigung zu einem "sicherheitstechnischen Fortschritt" komme, die Altanlage aber den neuen Anforderungen nicht mehr genüge. Nach Ansicht der KlägerInnen ist dies in Biblis B genau der Fall. Einigermaßen erstaunt waren sie jedoch, als sie beim Studium der in langem Streit erkämpften Akten sogar auf einen für Umweltminister Wilhelm Dietzel (CDU) bestimmten Vermerk stießen, der ihre Auffassung stützt. In dieser "ersten juristischen Einschätzung" des kurz zuvor eingereichten Stilllegungsantrags halten die Atom-Experten im Ministerium am 19. September 2005 fest, dass der Reaktor "selbstverständlich" nicht dem heutigen Stand der Technik entspreche. Diese Position habe das Ministerium dem Hessischen Verwaltungsgerichtshof sogar schriftlich mitgeteilt - in einem anderen Verfahren zu Biblis nur wenige Monate zuvor.

Dennoch lehnte Umweltminister Wilhelm Dietzel den Stilllegungsantrag der IPPNW im April 2008 ab. Es gebe keine Notwendigkeit, das Kraftwerk stillzulegen, Biblis B sei ausreichend sicher, argumentierte er. RWE sieht das genauso. Das Atomkraftwerk verfüge über ein "sehr hohes Sicherheitsniveau", sagt RWE-Sprecher Lothar Lambertz. Beide Reaktoren hätten bei der Periodischen Sicherheitsüberprüfung "sehr gute Ergebnisse" erzielt. In den vergangenen acht Jahren habe der Energiekonzern 1,2 Milliarden Euro in Nachrüstungen und Revisionen investiert. Biblis gehöre "zu den sichersten" Atomkraftwerken der Republik.

Noch im September 2005 hörte sich das allerdings ganz anders an. Da räumte der Stromriese aus Nordrhein-Westfalen der hessischen Atomaufsicht gegenüber schriftlich ein, "dass die Anlage zwangsläufig altert". Weiter hieß es: "Sie muss nicht während ihrer Betriebszeit dauerhaft dem Stand von Wissenschaft und Technik entsprechen." Die bisherige Argumentation des Umweltministers hält Henrik Paulitz daher für "nicht nachvollziehbar". Die im Auftrag der Bundesregierung erstellte "Deutsche Risikostudie - Phase B", für die Biblis B die Referenzanlage war, und die im Rahmen der Periodischen Sicherheitsüberprüfung erstellte probabilistische Sicherheitsanalyse skizzierten "viele Dutzend mögliche Unfallabläufe, die in Biblis B zur Atomkatastrophe führen können". Die von RWE angeführten Ausbesserungsarbeiten am Kraftwerk geißelt darüber hinaus Henrik Paulitz als allenfalls "punktuelle Veränderungen".

Die konzeptionellen sicherheitstechnischen Schwachstellen von Biblis B seien nach wie vor nicht behoben und ließen sich auch nicht beheben. "Man kann so eine hoch komplexe Anlage nicht runderneuern", betont er. Von einem Sicherheitsniveau auf dem heutigen Stand der Technik, wie es das Bundesverfassungsgericht gefordert habe, sei Biblis meilenweit entfernt.

Den internen Vermerk der Fachabteilung des Umweltministeriums, der diese Einschätzung bestätigt, wertet Paulitz für das anstehende Gerichtsverfahren als "Trumpfkarte". Nach Ansicht der Biblis-KritikerInnen hat das hessische Umweltministerium in der Frage des notwendigen Sicherheitsniveaus keinen Ermessensspielraum. Angesichts der offenkundigen Mängel sei die Behörde verpflichtet, die Betriebserlaubnis für RWE zu widerrufen, fügt Paulitz hinzu. Mehrere von den IPPNW im Vorfeld zu Rate gezogene hochrangige Verfassungsrechtler, darunter ein ehemaliger Bundesverfassungsrichter, bescheinigten der Klage Hand und Fuß. Gibt ihr der Hessische Verwaltungsgerichtshof statt, könnte es auch für andere Atomkraftwerke eng werden.

Jedoch gibt es Anlagen, deren Sicherheitsniveau mit Biblis B vergleichbar ist: Der Atommeiler Neckarwestheim I. Und noch schlechter steht es um Biblis A.

Wie das 1995 per Gerichtsbeschluss stillgelegte Atomkraftwerk Mülheim-Kärlich steht auch Biblis in einem Erdbebengebiet. Nur wenige Kilometer entfernt kam es, noch vor dem Bau des riesigen Meilers, zu zwei mittelschweren Erdbeben. In den Neunzigerjahren registrierten Seismologen am Standort Biblis zwei Mikroerdbeben. Das gilt als Beweis für den aktiven Untergrund. Offiziell hält Biblis B Erdbeschleunigungen von 1,5 m/s aus, für Biblis C empfahl der gleiche Gutachter schon einen Schutz gegen Beschleunigungen von 2 m/s.

Tatsächlich rechnen muss man in Biblis nach Aussage von Fachleuten mit deutlich stärkeren Stößen. Nach Ansicht des hessischen Umweltministeriums reicht es aber aus, wenn Biblis B die schwächere Hälfte der Beben ohne Schaden übersteht. Im Fall Mülheim-Kärlich hielten die Gerichte diesen Schutz für nicht ausreichend: Sie verlangten eine Absicherung gegen mindestens 84 Prozent der Erdstöße.

Gleichermaßen real ist, dass bei einer Kernschmelze große Mengen Wasserstoff entstehen. Eine Explosion könnte den in Biblis B besonders schwachen Sicherheitsbehälter zerstören.

Um die Explosionsgefahr zu mindern, rüstete der Betreiber RWE den Reaktor mit sogenannten Rekombinatoren nach, die den Wasserstoff katalytisch abbauen sollen. Die Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) wies allerdings nach, dass diese Katalysatoren beim Betrieb "bauartbedingt" bis zu 500 Grad Celsius heiß werden - und dann das gefährliche Knallgasgemisch von selbst zünden könnten.

Ein weiteres Risiko für Biblis stellt der nur wenige Kilometer entfernte Frankfurter Flughafen dar. Gleichwohl ist der Kraftwerksbau nicht gegen den Absturz schwerer Militär- oder Passagierflugzeuge geschützt. RWE und Behörden zählen Flugzeugabstürze zum "Restrisiko". Das sind laut Bundesverfassungsgericht Szenarien "jenseits der Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens".

Wahrscheinlicher wäre ein kompletter Stromausfall innerhalb des Atomkraftwerks, der "Station Blackout". Ein solches Ereignis gehört zu den gefährlichsten Ereignissen beim Betrieb eines Reaktors. Ohne Strom fällt dessen Kühlung aus, der Kern überhitzt sich, es kommt zur Schmelze. Ursache der Stromausfälle sind oftmals banale Ereignisse: zum Beispiel ein Unwetter wie am 8. Februar 2004. Damals wurde Block B vom Netz getrennt, die Umschaltung auf Eigenversorgung misslang, der "Notstromfall" trat ein.

Zwar sicherten in diesem Fall Dieselaggregate die Stromzufuhr, um den Reaktor zu kühlen und zu steuern. Aber die Diesel-Generatoren gelten als unzuverlässig: In den vergangenen zehn Jahren meldete RWE entdeckte Ausfälle im Block von Biblis B.

Der Betrieb eines Atomkraftwerks kann zudem unkontrollierbar werden, wenn zu wenig Ersatzkühlmittel zur Verfügung steht. Der TÜV Nord bemängelte, dass es hierbei zu einer "früheren Kernfreilegung" kommen kann. Experimente des Unternehmens Siemens haben gezeigt, dass selbst Störfälle aufgrund von nur kleinen Lecks im Kühlkreislauf in Biblis B nicht zu beherrschen sind.

Zu den gefürchtetsten Störungen in einem Atomkraftwerk zählen Lecks in den Heizrohren der Dampferzeuger. Durch diese Löcher tritt radioaktiver Dampf aus dem Primärkühlkreislauf aus. Der Reaktor muss in einem solchen Fall sehr schnell abgeschaltet werden. Bei dem "komplexen Abfahrvorgang drohen laut TÜV im Atomkraftwerk Biblis B jedoch "zusätzliche Störungen" mit weiteren gefährlichen Folgen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.