: Das Internet vergisst nie
BUNDESGERICHTSHOF Die Namen der Mörder von Walter Sedlmayr müssen nicht nachträglich aus Online-Medien entfernt werden
VON RENÉ MARTENS
Arbeitgeber googeln heute bekanntlich jeden Bewerber, und das könnte sich für Wolfgang W. und Manfred L. bei der Jobsuche als Nachteil erweisen. Die Halbbrüder, die 1993 für den Mord an dem Schauspieler Walter Sedlmayr verurteilt wurden und seit 2007 und 2008 wieder in Freiheit leben, klagen deshalb eifrig gegen online noch zugängliche ältere Artikel, in denen ihre vollen Namen genannt werden. Anfangs mit großem Erfolg: Das Landgericht und das Oberlandesgericht Hamburg verlangten von zahlreichen Sendern und Verlagen, die entsprechenden Beiträge abzuändern. Eine Verpflichtung, Geschichtsverfälschung zu betreiben, wie Kritiker monierten.
In dieser Woche haben die Kläger jedoch eine wegweisende Niederlage kassiert. Der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe hat es für zulässig erklärt, dass das Deutschlandradio in seinem Onlinearchiv einen im Juli 2000 entstandenen Beitrag, in dem die vollen Namen erwähnt sind, weiter vorrätig halten darf. Es war die erste Entscheidung des BGH auf diesem Themenfeld, weitere Verfahren folgen. Im Februar stehen Revisionsklagen von Spiegel Online und Mannheimer Morgen auf der Agenda. Beide Medien hatten, wie das Deutschlandradio, in Hamburg verloren. Erst vor knapp einem Monat unterlag dort auch die FAZ gegen die Sedlmayr-Täter. Diese Sache könnte ebenfalls vor dem BGH landen.
Dass Kläger, die in Bayern leben, vor ein Gericht in Hamburg ziehen, wenn sie gegen Medien aus Mannheim vorgehen, mag etwas seltsam wirken. Möglich macht das der sogenannte fliegende Gerichtsstand: Gegen eine Medienveröffentlichung kann man mit einer Unterlassungsklage in der Regel an jedem Landgericht vorgehen. Weil die für Presserecht zuständigen Richter in Hamburg ein großes Herz für Kläger haben, ist die Hansestadt beliebt. Gleichzeitig hat der BGH zuletzt viele dieser Urteile revidiert (siehe taz vom 12. 12.).
In der Deutschlandradio-Sache argumentiert der BGH, es bestehe „ein anerkennenswertes Interesse der Öffentlichkeit, vergangene zeitgeschichtliche Ereignisse zu recherchieren“. Die Richter würdigten damit einen Vorzug des digitalen Fortschritts. Während das OLG in Hamburg mehrmals darauf pochte, Medienunternehmen müssten archivierte Beiträge immer wieder auf ihre Rechtmäßigkeit überprüfen, urteilten die Karlsruher Richter, der damit verbundene Aufwand bringe die Gefahr mit sich, „dass die Beklagten von einer der Öffentlichkeit zugänglichen Archivierung absehen“. Für Medienunternehmen ist es von großer Bedeutung, dass der BGH dieses Verlangen der Hamburger als ökonomisch utopisch und praxisfern eingestuft hat.
Spannend wird das Thema auch auf internationaler Ebene. Der BGH hat gerade einen anderen Fall der Sedlmayr-Mörder an den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg weitergeleitet, weil eine österreichische Internetfirma betroffen ist. Protest regte sich unlängst in den USA, nachdem die Wikimedia Foundation abgemahnt wurde, weil in der englischen Version von Wikipedia die Sedlmayr-Mörder, anders als in der deutschen, mit vollem Namen genannt sind.
Das BGH-Urteil könnte auch die taz betreffen, in einem ähnlichen Fall: 2006 war die ehemalige Hamburger Kiezgröße Karl-Heinz Schwensen vor dem Hamburger OLG erfolgreich dagegen vorgegangen, dass Artikel im Online-Archiv der taz zugänglich sind, in denen Schwensens früherer, markanter Spitzname erwähnt wird – obwohl der Name jahrzehntelang als Schwensens Markenzeichen galt. Die taz hat gegen das Urteil 2007 Verfassungsbeschwerde eingelegt. Wann der Fall verhandelt wird, ist offen.