: WAHRE SCHREIBTISCHE. HEUTE: FRITZ TIETZ – ODER DAS NEO-ESOTERISCHE GESAMTKUNSTWERK MIT FÄHNCHEN FÜR TRETMINEN IN DER GROSSSTADT
Jeder Koch hat seine Mise en place, seine eigene Art, in der Küche den persönlichen Arbeitsplatz einzurichten mit Gewürzen und Kochgeräten und allerlei Dingen, die zum Gelingen eines Gerichts notwendig sind. Auch Autoren und Schriftsteller inszenieren ihre Schreibtische nach sehr eigenen Vorstellungen. Die Wahrheit hat sich an den Arbeitsplätzen ihrer Köche umgesehen.
Er berichtete von der weltweit einzigen Messe für Getändelwesen und fragte sich, ob es sich beim Gehen um eine typisch katholische Unsportart handelt. Er gilt als der Entdecker von Neurodermitis bei Barbiepuppen und besuchte das Suppenhaarmuseum. Er besitzt ein Compactflash-Lesegerät mit USB-Anschluss (1) und kann Magnetspeicherkarten aller Art auslesen. Er ist berüchtigt für seine weiten Einwürfe auf der Sportseite und verhinderte, dass im norddeutschen Seevetal ein Taliban-Gefangenenlager eingerichtet wird. Ausgerechnet in Seevetal. Hier, ländliche Idylle im Hamburger Speckgürtel, glaubte Fritz Tietz einst seine Ruhe zu finden. Weit gefehlt: Kinderlärm, Kehrmaschinen, Laubsauger, Rasenmäher. Das Unheil hat einen Namen: Kärcher! Der Gehörschutz (2) vom nahen Airbus-Werk ist deshalb immer im Griffnähe.
Bald steht die jährliche Neuanschaffung einer robusten Hose an. Der Lands-End-Katalog (3) liegt bereit! Dank Aspirin und Nicoretten (4) hat er das Aufgeben noch längst nicht aufgegeben. Zur Freude der Kinder soll das eingesparte Zigarettengeld in die Pumuckl-Spardose (5) fließen. Der Scanner (6) auf dem angrenzenden Lese- und Basteltisch (7) ist Indiz dafür, dass auch Tietz’ Büro längst noch nicht papierlos funktioniert. Auch die achtlos in der Ecke abgestellten frühen Zeichnungen des Meisters (8) beweisen das. Eine Taschenlampe (9) ist in dieser Gegend unverzichtbar: Im Rahmen der Nahkampfausbildung der beiden Töchter werden Tretminen in der nahe gelegenen Großstadt mit Fähnchen markiert (10). Diese sind dann weithin sichtbar und können gefahrlos umgangen werden.
Interessieren Sie sich für Sexualität? Dann hören Sie die CD von Horst Tomayer (11). Sie heißt „Interessieren Sie sich für Sexualität?“, und zu Recht rechnet sich Tomayer zu den links liegengelassensten sowie unterhaltsamsten Endreimproletariern der Modernisierungsmoderne. Auffällig: Die CD liegt rechts – wie viele der Utensilien, die auf diesen gänzlich uninszenierten Schreibtisch gehören: trotz des neo-esoterischen Gesamtkunstwerks, das Fritz Tietz einen „Computer“ nennt, ein Block mit geheimen Notizen – ebenso wie diverse Eddings und Fliegenklatschen. Nur die Espressotasse (12) ist inzwischen leer. DIETER GRÖNLING