Debatte Die Grünen: Ideenfreie Selbstgenügsamkeit

Die Grünenspitze wiederholt es wieder und wieder: Inhalte vor Macht - und keine Koalitionsaussage. Paradoxerweise wird so vor allem die Basis ruhiggestellt.

Natürlich war das für die Grünen ein sehr guter Auftakt zum Wahljahr. 13,7 Prozent in einem Flächenland - so bei der Hessenwahl am Sonntag -, das war mehr, als sie zu hoffen wagten.

Unter Ausblendung sämtlicher spezifisch hessischer Umstände behaupten die Bundesgrünen nun flugs: Der seit 2005 gepflegte Kurs der Eigenständigkeit, also die Betonung der eigenen Inhalte ohne Anlehnung an eine der größeren Parteien, namentlich der SPD, habe sich gelohnt. Nicht Rot-Grün, nicht Schwarz-Grün, nur noch Grün-Grün, lautet das in hundert Variationen besungene Motto - und: Uns gehen Inhalte vor Macht. Wir formulieren unsere Ziele ohne Koalitionsüberlegungen.

Angesichts der Landtagswahlen, die es noch bis zur Bundestagswahl im September zu bestreiten gilt, hat diese Strategie den Vorteil, dass man sich nicht in machttaktische Widersprüche verstrickt. Nicht dass man mit Koalitionsausschlüssen etwa in Sachsen noch den grünen Genossen etwa in Thüringen in den Rücken fällt oder so etwas.

Doch ist "Inhalte vor Macht" kein Versprechen einer sachbezogenen Politik, sondern eine Machtklausel, mit der die Grünen inhaltliche Widersprüche zukleistern. Dies wird umso deutlicher auffallen, je näher der Tag der Bundestagswahl rückt.

So haben die Hessen-Grünen unter Tarek Al-Wazir ihr gutes Ergebnis nicht etwa deshalb eingefahren, weil sie explizit eine Koalitionsaussage verweigert hätten. Im Gegenteil: Sie schlossen unmissverständlich aus, Roland Koch zum Ministerpräsidenten zu machen. Ihr Bekenntnis gegen "Ausschließeritis" war zwar nach dem Debakel der Ypsilanti-SPD opportun, doch haben die Grünen es nicht durchgehalten - zu Recht übrigens.

Denn die Anti-Koch-Aussage reichte den 120.000 enttäuschten SPD-Wählern, die ihnen am Sonntag zugelaufen sind, als Garantie dafür, dass die Grünen nicht mit der CDU koalieren würden. Das Risiko, dass das Wahlergebnis Koch absägen würde und die Grünen mit einer CDU unter neuer Führung plus FDP koalieren könnten, war klein genug. Al-Wazir und die Seinen haben ganz sicher auch über eine solche "Jamaika"-Koalition ohne Koch nachgedacht. Gewählt aber wurden die Grünen nicht für diese Option.

Natürlich wissen auch die Anhänger der "Jamaika"-Option im Bund, dass sie mit einem offenen Bekenntnis zu Union und FDP nicht weit kämen. Ihnen dient die Betonung des Inhalte-vor-Macht-Prinzips deshalb dazu, den "Jamaika"-Interessierten ein Türchen aufzuhalten, ohne die Anhänger von Rot-(Rot-)Grün zu verprellen. Also sprechen sie davon, dass die Hürden für ein Bündnis mit den Schwarzen und Gelben im Bund ausgesprochen hoch lägen, ja schier unüberwindbar seien. Ihre Verhaltenheit schafft bei der Presse wiederum den Anreiz, sie mit Mutmaßungen über neue, zukunftsweisende Hochsprungtechniken öffentlich zum Sprung in die bunte Koalition zu ermuntern. So bleibt die Option in der Welt.

Doch auch der Mehrheit der Grünen, die Jamaika nur wenig zugeneigt ist, hilft die Betonung des "Inhalte vor Macht"-Prinzips, um die Reihen zu schließen. Es ist nachvollziehbar, dass sich die Grünen in Oppositionszeiten eher auf gemeinsame Inhalte verständigen können als auf Koalitionsabsichten. Das haben die Strategen am linken Flügel auch schon weidlich genutzt: Indem schon seit 2005 von Parteitag zu Parteitag die Inhalte weiter nach links gezerrt werden - Hartz IV hoch, Mindestlohn und so weiter -, wird ein Rechtsbündnis stark erschwert.

Denn wesentlich unnachsichtiger als der Grünen-Wähler ist die Grünen-Basis. Die Parteitagsdelegierten wachen seit den demütigenden Erfahrungen unter Rot-Grün umso aufmerksamer darüber, wer sich geneigt zeigt, zugunsten der Macht das Programm zu vernachlässigen. Dies durfte auf dem Erfurter Parteitag im November Fraktionschef Fritz Kuhn spüren, der nicht in den Parteirat gewählt wurde.

So haben sich zwar auf den Parteitagen die Inhalte der Grünen verändert, doch wird im Wahl- und Wirtschaftskrisenjahr, in dem sich wiederum die Politik schneller ändert, als irgendwer Parteitage anberaumen kann, die strategische Funktion des "Inhalte vor Macht"-Mantras überdeutlich. Zwar ist es die einzige schlüssige, in wenigen Worten übermittelbare Antwort auf die Verwerfungen in der durch die Linkspartei veränderten Parteienlandschaft; gleichzeitig aber erfüllt das Grün-Grün-Mantra die innerparteiliche Funktion, die Basis ruhigzustellen. Die Grünenspitze will über Machtoptionen nachdenken, ohne auf den Parteitagen mit entsprechenden Flügelkämpfen belästigt zu werden. Auf diese Weise hat das fortlaufende Bekenntnis zu den Inhalten das paradoxe Ergebnis, dass diese nicht mehr ganz so ernst genommen werden müssen.

Ein Beispiel: Zu Jahresbeginn diskutierte die gesamte Republik über Wirtschaftskrise und Konjunkturpaket. Nur die Grünen blieben offenbar im Weihnachtsurlaub und boten vor einer Woche dann einen Aufguss ihres Forderungskatalogs vom November an. Was die neue Konjunkturpolitik für grüne Grundsätze und Ideen bedeutet, wurde dabei kaum gestreift. Schulden, seit Jahren das Monster am grünen Horizont - nun gut, hieß es plötzlich, wenns nicht anders geht. Auf einmal war das Argument wieder wichtig, den Kindern neben möglichst wenig Schulden besser auch eine funktionierende Wirtschaft zu hinterlassen. Konsumgutscheine wurden für falsch, weil "ungerecht", befunden: Schließlich gehe damit dieselbe Summe an Reich wie Arm. Die Anhebung des steuerlichen Grundfreibetrags, für die im Prinzip das Gleiche gilt, fand man dagegen "gerecht".

Einerseits sei die konjunkturelle Wirkung von Konsumgutscheinen unbestreitbar. Andererseits sei die Beförderung von sinnlosem Konsum keine Lösung. Dass die Wirtschaftskrise immerhin die grüne Chance bietet, Konsum überhaupt wieder einmal infrage zu stellen, wurde dagegen heftig abgestritten. Es sei jetzt nicht die Zeit für Wachstumskritik oder gar eine neue Verzichtsethik, hieß es strikt. Dass genau eine solche radikale Erneuerung grüner Gründungsideen zu Beginn der Oppositionszeit angekündigt worden war, schien vergessen.

Die Grünenspitze wirkt angesichts der heranrollenden größten Wirtschaftskrise der Bundesrepublik ausgesprochen zurückgelehnt, um nicht zu sagen: faul. Dass die grün wählenden Zahnärzte und Lehrer von der Krise noch am wenigsten betroffen sein werden, erklärt dies nur zur Hälfte.

Der andere wesentliche Grund ist, dass die Grünen offenbar meinen, sie stünden ohnehin gut da, solange die große Koalition weiter so planlos hin und her rudert wie im Moment. Doch beweist das aktuelle Gezerre zwischen den Bremer Rot-Grünen, den Hamburger Schwarz-Grünen und den Bundes-Grün-Grünen in der Opposition um das Ja zum Konjunkturpaket im Bundesrat vor allem: Selbst vom Mitregieren in zwei kleinen Stadtstaaten sind die Grünen schon argumentativ überfordert.

ULRIKE WINKELMANN

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Chefredakteurin der taz seit Sommer 2020 - zusammen mit Barbara Junge in einer Doppelspitze. Von 2014 bis 2020 beim Deutschlandfunk in Köln als Politikredakteurin in der Abteilung "Hintergrund". Davor von 1999 bis 2014 in der taz als Chefin vom Dienst, Sozialredakteurin, Parlamentskorrespondentin, Inlandsressortleiterin. Zwischendurch (2010/2011) auch ein Jahr Politikchefin bei der Wochenzeitung „der Freitag“.

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