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Archiv-Artikel

Dem Tod den Stachel nehmen

UNTERWELT Wo die Kindheit wieder lebendig wird: Urs Widmer erzählt burlesk in einem blühenden Garten „Herr Adamson“

VON ANDREAS WIRTHENSOHN

Solche Geschenke wünscht man sich nicht unbedingt zum 94. Geburtstag: ein Miniaturboot, „in dessen Heck ein schwarzer Fährmann mit einem Ruder in den Händen stand“; ein Lebkuchenherz mit der Aufschrift „Gute Reise“, dazu ein Brot und eine Flasche Wein. Und die Urenkel haben noch ein Bild gezeichnet, auf dem ein Mann dem Horizont entgegengeht, über dem rot die Sonne leuchtet. Und doch liegen sie alle „goldrichtig“ (sofern man in diesem Zusammenhang davon sprechen kann) mit ihren anspielungsreichen Präsenten, denn am nächsten Tag ist es in der Tat so weit: „Was jetzt noch kommt, wissen nur die Götter.“

Wir schreiben den 22. Mai 2032. Der Erzähler sitzt inmitten eines blühenden Gartens – seinem Kindheitsparadies – und spricht für seine Enkelin Anni die Geschichte mit Herrn Adamson auf Band. Er weiß, dass Herr Adamson heute kommen wird, ihn zu holen. Und um dem Tod den Schrecken zu nehmen, erzählt er der Nachgeborenen, aber auch sich selbst diese Geschichte, die so abenteuerlich, so fantastisch ist, dass sie in der Tat problemlos jede Wirklichkeit transzendiert.

Living dead

Der Erzähler, der zufällig im gleichen Jahr geboren ist wie sein Erfinder, begegnet 1946 im Garten der Villa von Herrn Kremer zum ersten Mal Herrn Adamson. Beim Indianerspielen steht plötzlich der freundliche ältere Herr vor dem Achtjährigen. Er trägt zwar keine Schuhe, ist aber sonst ganz in Ordnung. Sie spielen Verstecken, fahren gemeinsam in die Stadt und freunden sich ein wenig an.

Doch schon bald zeigt sich, dass Herr Adamson eine Art living dead ist, ein Toter, der so durch die Welt geistert, wie er im Moment seines Todes aussah, und nur für den Jungen sichtbar ist. „Du siehst mich, weil ich in genau dem Augenblick gestorben bin, in dem du zur Welt gekommen bist. Genau dann. … Ich und du haben uns auf Erden abgelöst. Wie in einem Stafettenlauf ohne Stab. Ich bin dein Vorgänger. Du bist mein Nachfolger. Mich kannst du sehen. Alle andern Toten siehst du nicht.“ Um noch Kraft zu haben für die Ausflüge aus der Unterwelt ins Leben, bedarf der Vorgänger der Zuneigung des Nachfolgers. Und eines Tages wird es Herrn Adamsons Aufgabe sein, seinen Nachfolger ins Reich der Toten zu holen. Er selbst wird dann zu „Abfall“ werden und darf die Unterwelt nie mehr verlassen.

Die kindliche Neugier sorgt dafür, dass der Erzähler vorab in Dante’scher Manier das „Unterweltsall“ inspiziert, „dunkel, und mit einer Luft erfüllt, die einem Schleim glich, einem dennoch atembaren Schleim“. Herrn Adamson gelingt es mit Mühe, den Jungen wieder wohlbehalten in die „Oberwelt“ zurückzubefördern. Bei Mykene, wo Herr Adamson einst für Heinrich Schliemann graben durfte, landen sie wieder bei den Lebenden, und der Erzähler wird von zwei Polizisten per Fahrrad zurück nach Basel gebracht. Die nächste Begegnung mit seinen „Vortoten“ folgt 2011, als er eine etwa gleich alte Dame aus den USA kennenlernt, die den Stamm der Navajos erforscht und ihn als Assistenten engagiert. In Arizona stoßen sie auf tote Indianer, die im Augenblick, da der Erzähler das Licht der Welt erblickte, hingemetzelt wurden. Diese Dame erweist sich als die Enkelin von Herrn Adamson, die er seit 1946 gesucht hat, um ihr etwas zu übergeben.

Im Meer der Transzendenz

„Die nächsten paar Minuten dürfen Sie sich über nichts wundern“, heißt es an einer Stelle, und man braucht als Leser in der Tat ein gehöriges Maß an Vorstellungskraft und Willen zur Fantasie, um sich an all den burlesken Einfällen und Verwicklungen dieses Romans zu erfreuen.

Urs Widmer trieb seine Geschichten schon immer gerne weit hinaus ins Sur-Reale, dorthin, wo die Kindheit wieder lebendig wird und die Endlichkeit des Lebens ihren Schrecken verloren hat. Aber noch nie hat er sich so weit hinausgewagt aufs Meer der Transzendenz, noch nie so weit ins Jenseits hineingeschrieben. Am Ende bricht der Text ab mit einem „jetzt“, dem „Zeithauch“ des letzten Augenblicks. Der Erzähler hat keine Angst davor: Solange er erzählte, war er noch nicht tot, und das, wovon er erzählt hat, lässt das Sterben in einem wunderbar tröstlichen Licht erscheinen. Dem Tod den Stachel nehmen – vielleicht ist das die ureigenste Aufgabe der Literatur. Urs Widmer hat sie wieder einmal mit Bravour geleistet.

Urs Widmer: „Herr Adamson“. Diogenes, Zürich 2009. 200 S., 18,90 Euro