: Die Replikanten sind los
Die Geschichte des Pop ist eine Geschichte des Coverns. Das hat ein Musikwissenschaftler aus Hamburg erforscht – und herausgefunden, dass immer unverhohlener abgekupfert wird. Dabei ist das Cover manchmal erfolgreicher als das Original
Von Jan Freitag
Oh tut das weh! „I love Rock‘n‘Roll“, die Hymne einer Generation, ist nicht von Joan Jett. Mit verschwitztem Haar, die E-Gitarre im Anschlag, fegte das erste echte Riot Grrrl 1981 durch Ilja Richters Disco und dann das: Alles nur geklaut, von einer Glamrockband namens The Arrows. Joan Jett würde indes eher gecovert sagen. Klingt irgendwie seriöser. Und ist im dunklen Musikgeschäft keine Ausnahme. Es ist die Regel.
Niemand weiß das besser als Marc Pendzich. Was daran liegt, dass sich niemand so für Neuauflagen alter Titel interessiert wie der 34 Jahre alte Hamburger. Einen „Sättigungsgrad von bis zu 70 Prozent“, hat er in den Top Ten der letzten Jahre entdeckt und die Ursachen dafür auf 439 Seiten ausgebreitet: In seiner musikwissenschaftlichen Doktorarbeit an der Uni Hamburg mit dem Titel „Von der Coverversion zum Hit-Recycling. Historische, ökonomische und rechtliche Aspekte eines zentralen Phänomens der Pop- und Rockmusik“.
„Sättigungsgrad von bis zu 70 Prozent“ bedeutet, dass sieben von zehn Toptiteln so oder ähnlich schon mal in den Charts standen. Vor drei Jahren waren es kurzzeitig gar acht von zehn. „Das“, er seufzt und es klingt wie der Soundtrack seiner Dissertation, „hat‘s früher nie gegeben“. Nicht dass Marc Pendzich verbittert oder wütend darüber wäre. „Ich bin dem Mainstream nicht abgeneigt“, sagt er offen. Björk und Zweiraumwohnung gefallen ihm gut, sein Äußeres ist so schillernd wie ein Versandhaus-Katalog, und Covern aus „dem Pool an Songs der letzten 50 Jahre“ findet er sogar richtig. „Es wäre doch schade, wenn sie den heutigen Generationen vorenthalten blieben“.
Nein, sein Interesse ist das eines Kulturforschers. Sachlich, kontrolliert. Es gehe ihm um die Hintergründe, und da kann er dann doch ein bisschen sauer werden. Wenn er übers Formatradio motzt, über MTVivas Massenware oder die Macht der Musikkonzerne. Die nämlich entschieden über den Einsatz der Finanzmittel, welche Stile und Acts gefördert werden – und welche nicht. Cover selbst, meint Pendzich, seien ja „neutral, sie können nichts dafür und sind eine immer existierende Konstante im Musikgeschäft“.
Das belegt ein Blick in die Datenbank coverinfo.de. Das Archiv Berliner Studenten, das monatlich vierstellig wächst, weist zurzeit gut 100.000 Referenzen, Cover oder Plagiate auf. Aus allen Epochen des Pop. Dennoch hat Pendzich in seiner Arbeit einen Unterschied zur Rock‘n‘Roll-Ära entdeckt. Damals wurden B-Seiten und Unbekanntes gecovert. „Heute sind es fast nur noch Hits.“
Wie in der Filmindustrie, wo ein Remake aufs nächste folgt, wird mit Netz und doppeltem Boden produziert. Das war in den frühen Flegeljahren des Pop noch anders. Damals, in den 1940ern, wurde Musik bereits zum Millionengeschäft, doch die Position in den Charts bemaß sich nach der Anzahl der verkauften Notenblätter. Musik lief live, Stars waren rar und keine Schwarzen. Zu dumm, dass sie die beste Tanzmusik spielten. Also versorgten die Labels ihre Mittelschicht mit weißen Kopisten.
In den Sixties erst begann man, Originale nicht nur zu covern, sondern zu interpretieren. „Updates“ nennt Pendzich das. Die völlige Umdeutung aber ist ein Kind von 1994, als Deutschlands erster weiblicher Technostar Marusha aus „Somewhere Over The Rainbow“, 1939 von July Garland in dem Film „Der Zauberer von Oz“, einen Hit bastelte. „Vorher gab es Techno nur in Clubs und auf Raves“, erklärt Marc Pendzich. Mit Marusha, der Frau mit den grünen Augenbrauen, kam Techno in die Charts. Davor hatte das Covern zumindest in Deutschland als anrüchig gegolten. Man dachte an Dieter Thomas Heck, der in der ZDF-„Hitparade“ noch jeden englischen Popsong zu deutschem Schmalz quirlen ließ. Howard Carpendale, Roland Kaiser, Costas Cordalis, sie alle beteiligten sich an der Germanisierung ausländischen Liedguts. Es war furchtbar.
Mit Marusha wurde das in Deutschland anders, und auch international setzte sich das Cover-Prinzip der Umdeutung durch. Mit Coolio, dem Mann mit den acht Dreadlocks auf dem Kopf, eroberte einer der ersten großen HipHop-Stars mit einer Gangsta-Version von Stevie Wonders Soul-Klassiker „Pasttime Paradise“ die Spitze der Charts.
Seither werden sind die Neuverwertungen auch aus den avancierten Bereichen des Pop nicht mehr zu stoppen. Mit dem endgültigen Durchbruch der CD wurde das Recycling weiter beschleunigt. Zu Beginn der 80er, hat Musikforscher Pendzich errechnet, waren 12 der 200 Top-Singles Aufgüsse. Ende der 90er hatte sich die Quote verdreifacht – Tendenz steigend.
Allerdings tauchen die Replikanten nicht nur in der Musik auf. MTV lässt Profilneurosen zu Brad Pitt operieren, und seit das 80er-Revival totläuft, müssen die a-kreativen 90er ran. Die Zukunft gehört der Tautologie, schreibt der Philosoph Boris Groys. In Zeiten radikaler Pluralität könne „alles als neu gelten“ – was die einen nicht mehr hören können, stoße bei anderen auf neues Interesse.
So kriegen Mittdreißiger womöglich Pickel, wenn sie Steve Winwoods 80er-Jahre-Hit „Valerie“ in Eric Prydz‘ Technoversion hören; Kids können davon nicht genug kriegen. So ist Pop: Im Fundus graben, Synergie schaffen, Kapitalismus der verspielten Art. Rezeption besiegt Produktion, glaubt Philosoph Groys. 827 Titel standen 2003 in den deutschen Charts – fast dreimal mehr als 1980. Nun, da laut Pendzich die Copyrights des Rock‘n‘Roll enden, droht Vierstelligkeit.
„Fassung eines älteren Plattentitels mit anderen Interpreten“, definiert der Duden den Begriff „Coverversion“, doch selbst das wirkt überholt. Zwei Jahre nach seinem Debüt stand der strunzdumme Hitklon Obsesíon drei Mal mit demselben Song in den Charts – von wegen älterer Titel. Klamme Exstars wie Creedence Revival Band covern sich selbst – von wegen andere Interpreten.
So gebiert die Popindustrie Eintagsfliegen, mit bizarren Nebeneffekten: Das Cover des Sommerhits 2004, „Dragostea Din Tei“, brachte es vor dem Original zur Nummer 1. Die Kopie wurde gleich darauf wiederum achtmal kopiert. „Bizarr“, sagt Marc Pendzich gelassen. Er meint es rein wissenschaftlich.
Marc Pendzich: „Von der Coverversion zum Hit-Recycling – Historische, ökonomische und rechtliche Aspekte eines zentralen Phänomens der Pop- und Rockmusik“. 464 Seiten, LIT Verlag