die wahrheit: Bildungshuberische Substrate am Matterhorn

An einem dieser Samstage, die zu einem Seltsamstag werden, rief uns der Berg. Anna und ich taten den ersten Schritt, nahmen Anlauf, holten das Blaue vom Himmel, gewissermaßen...

An einem dieser Samstage, die zu einem Seltsamstag werden, rief uns der Berg. Anna und ich taten den ersten Schritt, nahmen Anlauf, holten das Blaue vom Himmel, gewissermaßen. Es war derselbe Berg, der Edward Whymper gerufen hatte, Luis Trenker und die Schokoladenfirma Tobler. Jedes Jahr klettern, kraxeln, kriechen einige tausend Begierige hoch zum Matterhorn, erzählte später im Touristenzentrum ein freundlicher Herr, den es aus Basel nach Zermatt verschlagen hatte. Manche scheitern, was sonst? Und was hatte mich dorthin verschlagen?

Nun, einige Seiten Lektüre philosophischer Anmerkungen hatten mich angetrieben. Ohne gleich wie ein Bildungshuber zu erscheinen, darf man ja heutzutage Philosophisches lesen dank eines Bestsellers wie "Wer bin ich - und wenn ja, wie viele?". Um dieser Frage zu entrinnen, vertrete ich bildungshuberisch die Ansicht Goethes, the one and only: "Übrigens aber ist der Mensch ein dunkles Wesen, er weiß nicht, woher er kommt noch wohin er geht, er weiß wenig von der Welt und am wenigsten von sich selber. Ich kenne mich auch nicht, und Gott soll mich auch davor behüten." Das "Übrigens" ist übrigens beinahe das Schönste daran.

Statt also mehr über das sogenannte Ich erfahren zu wollen, hatte ich mittels digitaler Zeichen zu Immanuel Kants "Physischer Erdbeschreibung" gegriffen: "Die Welt ist das Substrat und der Schauplatz, auf dem das Spiel unserer Geschicklichkeit vor sich geht", sagt der Professor, der Königsberg nur sommersonntags verließ, um in seinem Strandkorb an der Frischen Nehrung Muße zu tun. In Kants Vorlesungen elektronisch blätternd, stieß ich auf Paragraf 43, wo er "in Betreff der Berge" über die Schweizer weiß: "Das Heimweh findet besonders statt, wo es schlechte, von der Natur wenig bedachte Gegenden giebt; denn je größer die Simplicität des Lebens ist, desto stärker ist der Affect des Gemüthes und der Begierden. (…) Je mehr man dagegen mit eigenem Interesse belastet ist, welcher Fall bei dem Luxus eintritt, um so weniger hängen die Menschen zusammen." Recht hat er.

Ich nahm es wie eine Fügung, brach auf in die Schweiz, genauer: ins Wallis, wo Anna derzeit wohnt, zumal das Einsilbige Kants leidlich für ein Leitmotiv taugte. Mit dem Lidl-Ticket via Bern, Thun, Spietz und Visp nach Leuk, punktum.

Schließlich verzichteten Anna und ich an jenem Samstag auf den letzten Teil des Anstiegs, setzten uns stattdessen inmitten der Hautevolee, nämlich auf die Terrasse eines Grand Hotels, wo ein Zimmer um die 500 Franken kostet.

Die Farb- und Lichtspielereien genießend, hoben wir mit Blick auf den Berg, auf Fels und Eis einige Gläser Johannesberg, tranken to all our absent friends, die allesamt nicht zu Whympers Truppe gehört hatten und der sogenannten Tragödie entronnen sein würden. Denn beim Abstieg derer, die den Triumph der Erstbesteigung auskosten durften, stürzten vier tödlich in den Abgrund.

Das Matterhorn sei die "meist fotografierte Touristenattraktion" der Schweiz, sagte Anna, und ich dachte an den Satz Marlene Dietrichs, man habe sie zu Tode fotografiert. Unverzagt hingegen ruft das Matterhorn.

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kari

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