Kommentar Regierungswechsel in Ungarn: Wenig Zeit für Gordon Bajnai

Der neue Premier hat einen Sommer Zeit, um Ungarns Wirtschaft zu entgiften. Schafft er es nicht, drohen Neuwahlen.

Ungarns Sozialdemokraten haben durch einen fliegenden Wechsel an der Parteispitze und ein Expertenkabinett die Gefahr existenzbedrohender Neuwahlen vorerst gebannt. Der neue parteilose Premierminister Gordon Bajnai ist nicht einfach ein nüchterner Wirtschaftsmann, sondern ein begnadeter Kommunikator, der es sich zutraut, sowohl harte Einschnitte in das notorisch überforderte Sozialsystem konsequent durchzuziehen als auch diese den Leidtragenden überzeugend zu verkaufen. Ein Leitartikel der Tageszeitung Népszabadság spricht von einer "Entgiftungskur" für die Wirtschaft.

Bajnais einzige Chance, den anspruchsvollen Plan auch zu verwirklichen und die lange hinausgeschobene Sanierung umzusetzen, liegt in schnellem Handeln. Er muss die derzeit positive Stimmung im Parlament nutzen, um seine Rosskur noch vor dem Sommer durchzuziehen.

Sollten sich noch dieses Jahr die erhofften Effekte auf die Wirtschaft einstellen, dann kann der Plan des abgetretenen Premiers Ferenc Gyurcsány aufgehen und auch die Talfahrt der sozialdemokratischen MSZP gestoppt werden. Sollte Bajnai scheitern, gibt es im Herbst Neuwahlen.

Bajnais Erfolg würde aber auch Oppositionsführer Viktor Orbán von der rechtspopulistischen Fidesz nützen, der zwar alles, was die Regierung tut, in der Luft zerreißt, aber ein alternatives Sanierungskonzept schuldig bleibt. Wenn das teure Sozialsystem einmal demontiert ist, muss sich der nächste Regierungschef - wie immer er heißen möge - nicht mehr die Finger schmutzig machen. Orbán verspricht zwar, er würde alle Reformen zurücknehmen, wenn er seine Partei in den angestrebten Neuwahlen zu einem Erdrutschsieg führt, doch glaubt ihm das höchstens die eigene Klientel.

Deswegen gibt es auf der Linken nicht wenige Stimmen, die meinen, Gyurcsány hätte die unvermeidliche Schlappe bei vorgezogenen Wahlen in Kauf nehmen müssen, damit die Fidesz-Partei den Beweis antreten muss, ob es wirklich anders geht. Der großmäulige Orbán wäre schnell entzaubert.

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*1955 in Wien; † 21. Mai 2023, taz-Korrespondent für Österreich und Ungarn. Daneben freier Autor für Radio und Print. Im früheren Leben (1985-1996) taz-Korrespondent in Zentralamerika mit Einzugsgebiet von Mexiko über die Karibik bis Kolumbien und Peru. Nach Lateinamerika reiste er regelmäßig. Vom Tsunami 2004 bis zum Ende des Bürgerkriegs war er auch immer wieder in Sri Lanka. Tutor für Nicaragua am Schulungszentrum der GIZ in Bad Honnef. Autor von Studien und Projektevaluierungen in Lateinamerika und Afrika. Gelernter Jurist und Absolvent der Diplomatischen Akademie in Wien.

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