Kommentar Schweinegrippe: Der Frankenstein-Komplex

Die Ähnlichkeiten zwischen Finanzkrise und Schweinegrippe sind offensichtlich: Das System wendet sich gegen den Menschen.

Es ist eine alte Weisheit unter Publizisten, dass sich die öffentliche Aufmerksamkeit nicht auf zwei Bedrohungen gleichzeitig konzentrieren könne. Aber manchmal gibt es Ausnahmen von der Regel. Gestern fielen die Börsenkurse aus Angst vor der Schweinepandemie. "Der DAX hat die Grippe", witzelten Börsenanalysten. Jetzt verstärkt die Schweinegrippe auch noch die Finanzkrise. Der Risikogesellschaft droht das Multiorganversagen.

Nicht zufällig hat sich der Begriff "Risikogesellschaft" für moderne, komplexe Gesellschaften eingebürgert, obwohl sie angesichts der vielen Institutionen der Bedrohungsabwehr doch ebenso gut auch als "Sicherheitsgesellschaften" charakterisiert werden könnten.

Aber es ist nun einmal so: Wir sind immer öfter mit Geschehnissen konfrontiert, die uns auf sehr neuartige Weise Angst machen. Aids, Super-GAU, Sars, Vogelgrippe, Finanzkrise und jetzt die Schweinegrippe.

Die Ähnlichkeiten zwischen diesen Phänomenen sind offensichtlich. Die Erreger verbreiten sich lautlos, die Gefahr kann überall sein und ihr Kennzeichen ist, dass wir keine Erfahrung mit ihnen haben. Die Bedrohung ist "irgendwo" da draußen, aber gleichzeitig potenziell überall. Der Finanzmarkt-GAU in irgendwelchen Glasfaserkabeln, der Krankheitserreger in der Atemluft, in den Speichelpartikeln zufälliger Passanten. Was ist da gefährlich? Küssen? Oder ist schon atmen potenziell tödlich? Und wenn ja: Die Einstellung der Atmung ist ja auch nicht gesund.

Gerade die Abstraktheit dieser Gefahren lässt sie äußerst bedrohlich erscheinen. Anders als, beispielsweise, eine Hitzewelle - obwohl eine solche gelegentlich auch schon mal tausende Tote gefordert hat.

Gewiss gibt es im konkreten Fall noch einen Ekelfaktor. Wer will schon fast die "gleiche" Krankheit haben wie das Schwein von nebenan, das sich den halben Tag in seiner Scheiße suhlt? Hinzu kommt eine Art Frankenstein-Schauer: Die Nutztiere, die von uns Menschen gezüchteten und gehaltenen Nahrungslieferanten, bedrohen uns plötzlich. Ein Virus "mutiert", was, wenngleich das häufiger vorkommt, allein schon einen futuristisch-bedrohlichen Beiklang hat. Was wir aus Eigennutz produzierten, wird plötzlich zur todbringenden Gefahr. Das Essen ist ansteckend.

Womit wir übrigens wieder bei den Ähnlichkeiten zwischen der Schweinegrippe und dem Kapitalismus wären. Nicht zufällig hat Karl Marx seine Erzählung über den Kapitalismus in Anlehnung an Mary Shelleys Frankenstein-Geschichte modelliert: als System, vom Menschen geschaffen, das sich gegen diesen wendet.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Geboren 1966, lebt und arbeitet in Wien. Journalist, Sachbuchautor, Ausstellungskurator, Theatermacher, Universaldilettant. taz-Kolumnist am Wochenende ("Der rote Faden"), als loser Autor der taz schon irgendwie ein Urgestein. Schreibt seit 1992 immer wieder für das Blatt. Buchveröffentlichungen wie "Genial dagegen", "Marx für Eilige" usw. Jüngste Veröffentlichungen: "Liebe in Zeiten des Kapitalismus" (2018) und zuletzt "Herrschaft der Niedertracht" (2019). Österreichischer Staatspreis für Kulturpublizistik 2009, Preis der John Maynard Keynes Gesellschaft für Wirtschaftspublizistik 2019.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.