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Archiv-Artikel

Saftiger Fleischberg

Das nach Berlin eingeladene Festival „Politik im Freien Theater“ hat dort seine Stärken, wo sich die Wirklichkeit zum Modell verdichtet – der direkte Weg zum Diskurs wird dagegen dekorativ verpeilt

VON JAN-HENDRIK WULF

Nicht nur indische Regisseure wissen die Schweizer Berge als Ersatzkulisse für die Kriegsregion Kaschmir zu schätzen. Zur Uraufführung von „Mnemopark“, eines ländlichen Versuchs des Schweizer Regisseurs Stefan Kaegi, präsentierten vier eidgenössische Pensionäre von den Modulbaufreunden Basel im Berliner HAU-Theater ein Stück Schweiz als Modellbahn. Vermittels einer kleinen auf die Lokomotive montierten Kamera, die ihre Bilder auf eine Großleinwand projizierte, konnte auch das Theaterpublikum in diese ländliche Miniaturwelt eintauchen, die auf 37 Metern Gleis um die Ortschaft Bannwil kreiste.

Was könnte politisch schon unverdächtiger sein als Modellbahnbau? Wie jeder weiß, wird nichts so schnell peinlich wie Theater mit einem gesellschaftskritischen Anspruch. Folgerichtig hat sich das 6. Festival „Politik im Freien Theater“, das die Bundeszentrale für politische Bildung dieses Jahr in Berlin ausrichtet, das Thema „Sehnsucht“ zum Motto gewählt. Denn egal woher man kommt und wofür man steht, nichts ist so echt wie die Sehnsucht nach echten Gefühlen – sogar in gesellschaftspolitischen Fragen. Und nichts ist so echt wie die Sehnsucht des Theaters nach einer gesellschaftlich bedeutsamen Rolle – das verbindet die 14 Produktionen und das umfängliche Begleitprogramm, das noch bis 20. November in mehreren Theaterhäusern und an öffentlichen Plätzen in Berlin stattfindet.

In „Mnemopark“ haben die Modulbaufreunde ihr Leben auf die Schiene verlegt und rekapitulieren ihren Alltag, ihre Erinnerungen und Fantasien am selbst gebauten Modell. Hier stimmt schließlich alles bis auf die aus Weißleim getupften und braun kolorierten Kuhfladen oder die aus Flaschenbürsten zurechtgestutzten Föhren. Sehnsucht materialisiert sich als selbstbestimmtes Leben im Maßstab 1 : 87. „Ich bau mir meine eigene Welt“, verkündete daher auch die in den Fünfzigerjahren aus der DDR geflüchtete Stahlbauschlosserin Heidy Louise Ludewig. Doch was ist schon real, wenn Laienschauspieler professionelles Theater machen? Sind es die verlesenen Statistiken zur Schweizer Landwirtschaft? Real wird der statistische Fleischberg aus subventionierter Schweizer Überproduktion erst dann, wenn eine Spielzeuglok durch ein 57 Zentimeter hohes, liebevoll mit Speckstreifen und Mortadella belegtes Modell hindurchfährt.

Real und ganz politisch ist es auch, wenn der Berliner Tänzer Jochen Roller Vorträge über den Marktwert des Tanzens hält. An einer Flip-Chart stellte er Kosten- Nutzen-Analysen an: Wie lange muss ein freier Künstler im Call-Center jobben, um seinen Lebensunterhalt für die Kunst zu verdienen? Was bringt Kunst als Standortfaktor? Widerfährt dem kulturfernen Steuerzahler Gerechtigkeit, wenn sein Kapital durch staatliche Kulturförderung vertanzt wird? Eigentlich wollte Roller gar nichts erklären, sondern bloß tanzen. Und das tat er dann auch – in kleinen Choreografien, die manchmal nur den Zweck zu haben schienen, die kulturpolitischen Rechnungen von seinem völlig unpolitischen Körper abzuschütteln. Denn man kann es drehen und wenden, wie man will: Finanziell gesehen ist Tanzen ein schlechtes Geschäft.

Eigentlich nur Musik machen wollte das electronic music theater aus Frankfurt am Main mit seiner medialen Performance „Marx“ in den Sophiensaelen: Auf vier Tischen türmten sich elektronisches Equipment und vergilbte Polit-Broschüren aus der DDR und dem westdeutschen DKP-Umfeld. Wie das eben bei jungen Kreativen so aussieht. Doch der bedeutungsschwangere Sound aus Samples, Loops, Arbeiterkampfliedern, Textpassagen und Geräuschen, den die vier Performer in stoischer Haltung an ihren Tischen improvisierten, bot eine gute Stunde lang nur wohlabgemischt inhaltsleere Langeweile. Eine junge Zuschauerin interessierte sich vor allem für die elektronische Live-Musik: „Aber vom Politischen habe ich nichts verstanden. Da müsste man sich vielleicht mal informieren“, meinte sie.

Politisch kann man eben auch sein, wenn man nur nah genug rankommt an das Leben. Im besten Sinn bewies das die Theatergruppe „fringe ensemble-phoenix5“ mit ihrer Produktion „Grenzgänger. Ein Stück über das Glück in Deutschland“ (Regie: Frank Heuel) in den Sophiensaelen. Hier zeigten fünf Schauspieler in gesplitteten Rollen eine humorvoll-makabre Collage aus sechs Migrantenschicksalen. Die Sprechtexte beruhen auf realen Interviews. Nett und naiv erzählen diese Frauen und Männern aus Litauen, Ex-Jugoslawien, Togo, Italien, Rumänien und aus der Türkei abgeschauten Figuren von ihrem zweiten Leben in Deutschland. Ihre Sehnsucht schwankt zwischen dem, was sie zu Hause aufgegeben haben, und dem noch Unerreichten. Als bedauernswerte Verlierer wollen sie natürlich nicht dastehen. In ihren Lebenswegen ergibt das Kuddelmuddel aus Zweckheirat, krummen Geschäften, Aufenthaltsgenehmigungen und Kriminalität nämlich einen Sinn: den unermüdlichen Aufstieg in ein besseres Leben. Als einmal kurz von Depressionen die Rede ist, muss das Wetter dran schuld sein und es fängt plötzlich aus der Bühnendekoration heraus an zu regnen.

Das Festival läuft noch bis zum 20. November. www.politikimfreientheater.de