: Große Reportageliteratur
KUNST Die zeitlosen Texte Marie-Luise Scherers
Marie-Luise Scherers „Die Bestie von Paris und andere Geschichten“ (Matthes & Seitz, 2012) ist ein kleines Juwel der Reportageliteratur. Die hier veröffentlichten vier Texte sind in der goldenen Zeit des Spiegels erschienen, Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger, als sich das Nachrichtenmagazin noch den Luxus leistete, ähnlich wie der New Yorker, solche langen und präzise recherchierten Artikel zu veröffentlichen. Vor allem die titelgebende Geschichte ist ein Beispiel für einen Journalismus, den es nicht mehr gibt, weil sich da jemand die Zeit nimmt und eingeräumt bekommt, einer Geschichte auf den Grund zu gehen. Der Glücksfall besteht auch darin, dass Scherer eine brillante Stilistin ist.
Thierry Paulin, Tänzer, jung, schwul und schillernde Person in der Pariser Halbwelt, hat zwischen 1982 und 1987 21 Morde begangen, zum Teil mit seinem Freund Jean-Thierry Mathurin. Sie hielten auf Märkten nach gebrechlichen und alleinstehenden Frauen Ausschau, verfolgten das Opfer in ihre Wohnung, brachten sie auf grausame Weise um, durchwühlten die Zimmer und zogen häufig mit einer nur geringen Beute wieder ab. Sie wohnten in einem schäbigen Hotel, und wenn Paulin zu Geld kam, gab er es mit vollen Händen wieder aus. Scherer versteht es, die beiden Täter nicht zu dämonisieren, was aufgrund ihrer monströsen Taten naheliegt, und zugleich zeichnet sie liebevolle Porträts der alten Damen. Als Paulin am 1. Dezember 1987 verhaftet wird und aufgrund von Fingerabdrücken schnell überführt werden kann, genießt er die „Berühmtheit“, die ihm plötzlich zukommt und die er ersehnt hat. Eineinhalb Jahre später stirbt er an Aids. Er ist 25.
In einer anderen Reportage hat Scherer den „letzten Surrealisten“ Philippe Soupault besucht, der zudem der erste gewesen war, denn er hatte mit André Breton die Gruppe gegründet und war einer der wenigen unabhängigen Geister, die sich nicht dem Reglement des Chefs unterordneten und sich die Freiheit nahmen, Romane zu schreiben, die Breton als geistige Kleingärtnerei verachtete. Soupault war einer der großen Zeugen des letzten Jahrhunderts und kannte alle von Proust bis Joyce.
Scherer hat ihm ein kleines Denkmal gesetzt, das bleiben wird wie ihr Buch, denn es ist zeitlos, auch wenn sie über flüchtige zeitgeschichtliche Ereignisse schrieb. Sie hat ihren Kern berührt und Literatur daraus gemacht, und das ist sehr selten.
KLAUS BITTERMANN