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Archiv-Artikel

Das Laboratorium der Nähe

SOPHIENSÆLE Nach Entgrenzung suchen: Dabei gelingt Angela Schubot und Jared Gradinger ein schönes Stück Tanz

Um Körpergrenzen zu verlassen, sind die beiden Tanzpartner bis nach Peru gepilgert

VON ASTRID KAMINSKI

Kann man zusammen sterben? Wenn die Lungen zusammengewachsen sind und der eine das Zwerchfell des anderen abklemmt, könnte das, wie die Tänzer Angela Schubot und Jared Gradinger andeuten, funktionieren.

Das Mit- und Füreinandersterben ist bildhaftes Thema ihres Stücks „Les petites morts“. „Die kleinen Tode“, bedeutet der Titel zunächst, steht aber idiomatisch auch für einen Orgasmus in der Mehrzahl. Zusammen mit dem Untertitel „All my holes are theirs“ und den drei Performern im Besetzungszettel weckt das erst einmal Erwartungen an eine Ménage à trois, Schweiß, Nacktheit, Explizites. Aber es kommt alles ganz anders: platonisch, liebenswürdig, feierlich.

Der Abend, der zurzeit in den Sophiensaelen läuft, ist der zweite Teil von „Les petites morts“. Der erste, mit dem Untertitel „i hope you die soon“, lief zuvor im HAU 1. Angela Schubot und Jared Gradinger haben darin zunächst als Duo ihr Interesse an körperlicher und geistiger Symbiose, für das sie schon durch ihre Vorgängerstücke bekannt sind, intensiviert. In schlichter schwarzer Bühnenkleidung bildeten sie ein siamesisches Zwillingswesen, atmeten über einen großen Teil der Performance sogar Mund an Mund. Beim Zuschauen ging das unter die Haut. Sinnlichkeit aber entstand nicht, eher Nervosität und Abwehrreaktionen.

Interessant, wie eng positive Symbiose an vollkommen freiwillige Hingabe gebunden zu sein scheint. Zeuge von Fremdverschmelzungen zu sein ist unangenehm, auferzwungenes Einssein tragisch. Gruselig einfühlsam beschreibt Per Olov Enquist das in seinem Roman „Gestürzter Engel“ anhand der Geschichte von Ruth Berlau und Bert Brecht sowie eines zweiköpfigen Menschen aus den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts. Auch „i hope you die soon“ verschaltet, allerdings abstrakter, diese Aspekte des Symbiotischen.

Aber das Stück erweitert die Perspektive auch. Sich begegnende Münder können, wie Angela Schubot in einem Hintergrundgespräch sagt, nicht nur für einen Kuss, sondern auch für tausend andere Dinge stehen. Diese tausend anderen Dinge der Nähe sind ihr Laboratorium. Um Körpergrenzen zu verlassen, sind die beiden Tanzpartner bis nach Peru gepilgert. Dort haben sie dreimal in traditionellen Zeremonien mit Ayahuasca experimentiert, einem Halluzinogen, das im Gehirn dieselben Stoffe freisetzt wie Geburt und Tod.

In „All my holes are theirs“ gelingt dann als Summe der Studien die positive Symbiose, und wahrscheinlich gerade auch darum, weil es bewusst wahrgenommene Grenzen gibt. Und vor allem auch wegen der kanadischen Videokünstlerin und Philosophin Aleesa Cohene, die mit auf der Bühne ist. Fast passen Gradinger und Schubot zusammen in den Umriss ihres voluminösen Körpers. Dieses proportionale Verhältnis wird auf der Bühne mit dem Anfangsbild deutlich, in dem das Duo hinter der so vertrauensvoll wie vorsichtig präsenten Frau perspektivisch fast verschwindet.

Jedoch ist das Ausschlaggebende an diesem Bild nicht der Body-Mass-Index, sondern sein metaphorischer Gehalt. Denn die zwei eingeschworenen Performer werden zu Bewegungsmotoren, Muskeln und Prothesen, ihr Bewegungsgefühl und ihr Tanz werden an und in den Körper Cohenes assimiliert, ohne dessen Eigenenergie zu blockieren. Rein äußerlich gesehen bleibt das Duo ein Außenbordmotor, aber intentional, rhythmisch und seelisch verschmelzen sie zum bewegten Stillleben einer Dreieinheit – von einer Innigkeit und Kompositionsdichte, die an Raffael denken lässt.

Immer wieder gibt es auch wie aus der Aura des Dreierwesens herausgestemmte Bewegungsbilder: Gradinger und Schubot, die gegen die liegende Cohene branden – wie eine Welle, die über ihren eigenen Kamm rollen will. Es ist schwierig, diese Bilder wiederzugeben. Manche von ihnen sind, um es mit Enquist zu sagen, wie die richtigen Träume, die „deutlich und darum vollkommen unverständlich sind“.

Macht so viel Körpernähe Angst? „Nein“, meint Aleesa Cohene drei Tage vor der Aufführung, „alles fühlt sich genau richtig an, wie nach einem Tag am Strand, nachdem du einfach total durch bist.“ Das setzt Maßstäbe, die erfüllt werden müssen. Gradinger und Schubot schlucken. Dann aber wird es viel mehr als ein Tag am Strand. Ernst, traurig, zärtlich, würdevoll, virtuos, großartig und mit Musik.

■ Wieder am 9. und 10. Februar, 20 Uhr, Sophiensæle