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Archiv-Artikel

Muttis tuppern sich nach vorne

„Das Zuckerbrot-und Peitsche-Prinzip kann man ohne weiteres mit den Psychostrategien von Sekten vergleichen“

AUS ZEVEN INA FREIWALD

Die Halle bebt. 450 Frauen stehen klatschend und johlend vor ihren Stühlen. Auf der Bühne bekommt eine adrett frisierte Mitarbeiterin um die dreißig mit jeder Menge „Hüftgold“ einen weißblauen Messbecher überreicht. Ihr Zusatzlohn für elf Tupperpartys mit einem Umsatz von 3.865 Euro in den letzten drei Wochen. Aus den Lautsprechern röhren „Schallalalala“-Rhythmen, sie winkt ihren Mitstreiterinnen in der ersten Reihe zu, wischt sich Tränen von den Wangen und greift nach dem Mikro. Stühlerücken, dann Stille im Raum. „Es ist ein Wunder“, verkündet sie strahlend. „Früher habe ich mich nicht mal getraut, im Kaufhaus einen Pulli umzutauschen. Dann kam meine erste Vorführung, und ich wäre am liebsten in den Ultra gekrochen und hätte den Deckel zugemacht.“ Einige lachen. Ja, das kennen sie auch. „Aber ich plapperte einfach drauflos, stellte unsere Neuheiten vor und merkte plötzlich, dass ich die Leute im Raum begeistern konnte.“ Bravo-Rufe. „Jetzt stehe ich hier bei unserem Talente-Treffen in Zeven und werde geehrt. Ich bin selbstbewusster, fühle mich besser und verdiene auch noch Geld. Das ist doch toll.“ Tosender Beifall. Alle springen wieder von den Sitzen. Die Rednerin nippt an ihrem Sekt. „Liebe Kolleginnen, diese Power, die uns hier alle erfüllt – die müssen auch die Kundinnen spüren. Wenn wir mit ihnen fertig sind, müssen sie denken, dass sie ohne Tupper nicht mehr leben können.“ Wieder Klatschen. Schallalalala.

„Tankstelle“ nennt Tupperware die monatlichen Zusammenkünfte, bei denen Neuankömmlinge und frisch aufgestiegene Gruppenberaterinnen zu höheren Umsätzen aufgepuscht werden sollen. Hier lernen sie alle Tricks, die sie als so genannte Tuppertanten erfolgreich machen: Wie sie beim ersten Kontakt ein vertrauliches Du etablieren. Wie sie neue Gastgeberinnen ködern, indem sie bei einer Vorführung erst Geschenke verteilen und dann bekannt geben: „Wer sie behalten will, muss selbst eine Party machen.“ Und wie sie aus dahinplätschernden Gesprächen wichtige Gäste-Infos ziehen, um mögliche „Beutestücke“ später gezielt anzusprechen: „Sie sind arbeitslos? Versuchen Sie es doch mal bei Tupper.“

Seit der Farmerssohn und Chemiker Earl Silas Tupper vor sechzig Jahren die nahezu unzerstörbare Polyäthylenschüssel „wonderlier bowl“ entwickelte, hat sich der Konzern wie eine Plastik speiende Krake über den Globus hergemacht. Lizenzeigentümer Premark International fertigt in breiter Produktpalette in 16 Werken und fährt Jahresumsätze von 1,2 Milliarden Dollar ein. Die Hälfte stammt aus dem europäischen Markt, ein Viertel allein aus Deutschland.

Der Clou: Die hochwertigen wie kostspieligen Quick-Chefs (Küchenmaschinen), Ultras (Kasserollen) oder Eidgenossen (Gewürzdosen) mit der Dreißig-Jahre-Garantie können nur im privaten Rahmen erstanden werden, was die archaischen Sammel- , Bewahr- und Sortierinstinkte der meist weiblichen Kundschaft in den Kaufrausch treibt.

Die Idee stammt von der allein erziehenden Hausfrau Brownie Wise, die in den Fünfzigerjahren die ersten Tupper-Girls durch US-Haushalte tingeln ließ. Heute demonstrieren allein in Deutschland 70.000 Beraterinnen und 1.000 Berater knapp 4.000-mal täglich anhand der meist pastellfarbenen Luxuskunststoffbehälter den „Famous Tupperware-Burp“ (Tupperseufzer) – ein Zischen als Beweis, dass Luft unter dem Deckelrand entweicht und das Konservieren funktioniert.

Vor allem für Hausfrauen, Mütter und Langzeitarbeitslose bietet der Konzern den beruflichen Wiedereinstieg, zumal fast jede Interessierte mit einer Tasche voll Demo-Material sofort lostuppern darf.

„Im arbeitslosen Deutschland sind die Chancen einmalig. Denn bei uns verdient jede, was sie verdient: mindestens zwanzig Prozent Umsatz und jede Menge Prämien. Und was für viele noch wichtiger ist: Anerkennung“, sagt Margret Haider, Direktorin der bundesweit erfolgreichsten Region Lüneburg, eine von 168 deutschen Niederlassungen. Die blonde Ex-Lufthansa-Angestellte tupperte sich in den Sechzigern nach oben, startete 1972 mit Ehemann Peter als Franchise-Unternehmerin und wuppt seit seinem Tod vor acht Jahren den Laden in einer 50-Stunden-Woche alleine. „Wir fingen mit elf Beraterinnen im Wohnzimmer an, heute sind es 650.“

Das System ist so perfekt wie perfide. Es kommerzialisiert die privaten Kontakte aller Beteiligten. Ob Beraterin oder Kundin – jede will ihrer Freundin oder Bekannten einen Gefallen tun und gleichzeitig selbst von den nach komplizierten Punktsystemen vergebenen Bonuspräsenten profitieren. Die eine berät, die andere lädt ein, und die Gäste kaufen aus Sympathie gleich das Doppelte. Ein Schneeballsystem, das nur in dieser Form funktioniert, da es allen Beteiligten das Gefühl gibt, ihren bisherigen Job als Ehefrau und Mutter zu veredeln. „Bei der Identifikation mit einer Marke spielt das Gewissen eine große Rolle“, sagt der Kölner Wirtschaftspsychologe Dr. Volker Halstenberg. „Die Wertewelt der Marke muss mit den Werten der Tupperfrauen-Welt übereinstimmen.“ Dass sich alles in ihrer neuen Tätigkeit um Haushalt und Kochen dreht, erleichtert vielen den Schritt in die Selbstständigkeit, den sie sonst nicht gewagt hätten.

„Fragt eine Freundin aber nie direkt, ob sie Gastgeberin sein würde“, lehrt eine Referentin in Zeven. „Fragt sie erst: ‚Willst du nicht auch Beraterin werden?‘ Verneint sie, hakt ihr schnell nach: ‚Aber eine Party machst du doch für mich?‘ Das funktioniert, denn niemand sagt gern zweimal Nein.“ Ist die Freundin bereit, als Praktikantin einzusteigen, bringt sie als „Frischfleisch“ ihrer Entdeckerin mehr Bonuspunkte als ein guter Umsatz.

So kann aus einer einfachen Verkäuferin mit „Tupper-Näschen“ in wenigen Wochen eine „Schnuppi“-Junior-Gruppenberaterin werden, dann eine Gruppenberaterin mit Firmenwagen. Um ein Jahr kostenlos Opel Meriva zu fahren, muss sie fünf weitere Neueinsteigerinnen „rekrutieren“ und als „Tupper-Mutti“ dafür sorgen, dass auch sie fleißig Umsätze machen. Mit einem Gruppenumsatz von 5.000 Euro in sechs Wochen darf sie als Mitglied des „Karriere-Clubs“ drei Tage nach Belgien reisen, mit Top-Hotel, allem Pipapo, einschließlich der Besichtigung der Fertigungshallen in Aalst. Erst richtig die Sau rauslassen darf die brave Hausfrau beim Jahrestreffen der 4.000 Erfolgreichsten, bei dem sie bei konstantem Alkoholpegel nach den obligatorischen Ehrungen und Kochvorführungen Gaststars wie DJ Bobo live lauschen kann.

Doch bei allem Lob steigt der Druck mit jedem Euro. Springt einer Gruppenberaterin nur eins ihrer „Kinder“ ab oder stimmen die Umsätze nicht mehr, muss sie sich erklären, den Lobeshymnen über ihre erfolgreicheren Kolleginnen mit Ignoranz geächtet beiwohnen und ihren Firmenwagen innerhalb von sechs Wochen wieder abgeben. Marketingexperte Halstenberg: „Das Zuckerbrot-und-Peitsche-Prinzip kann man ohne weiteres mit den Psychostrategien von Sekten vergleichen.“

Wer sich in seinem Freundeskreis „festgetuppert“ hat und nicht weiß, wie er neue Gastgeberinnen findet, dem hilft die Broschüre „Tipps zum Buchen“ mit Ideen für Telefonkontakte.

Gewitzte Organisationstalente mit großer Klappe, psychologischem Basis-Know-how und großem Bekanntenkreis können jedoch aus dem Stand eine steile, wenn auch hektische Karriere starten. Dies beweist eine ehemalige Kaufhausangestellte, die beim Zevener Talente-Treffen mit ihrem Vortrag „Mein Weg bei Tupper“ den Neuen als Vorbild dienen soll. Mal ausprobieren, hat sie gedacht, dann am ersten Tag gleich über 1.000 Euro umgesetzt. Das lohnt sich ja, hat sie sich gesagt und eine Freundin gefragt, ob sie nicht auch einsteigen wollte. So sind zum eigentlichen Verdienst noch ein Fahrrad gekommen, ein Grill und vier Tage Center-Park für die ganze Familie. Ihr Mann war erst skeptisch, aber als sie sich ihr erstes Firmenauto ertuppert hatte, war er beeindruckt. Jetzt ist sie acht Monate dabei und fährt einen kleinen Mercedes. Ihr nächstes Ziel: ein Einfamilienhaus.

Leider sagt niemand den neuen Beraterinnen, welche Pflichten sie über den Warenverkauf hinaus haben. Als selbstständige Unternehmerinnen müssen sie neben Lohn auch Bonusgeschenke und Reisen versteuern, was die wenigsten wissen. Tupperware-Pressesprecher Michael Raffel: „Wir nennen den Wert von jedem Extra für die Auflistung der Steuerbescheide, man muss uns nur fragen.“ Der Flachbildfernseher und die Gartenbank – jede Sachprämie geht mit 15 bis 42 Prozent vom Gesamtumsatz ab und kann im Rahmen der Gewinn-Ermittlung einen Monatsverdienst von 400 Euro schnell halbieren.

Doch die „Küken“ im Saal sind ahnungslos und ganz blass vor Ehrfurcht. Diese Power, die haben sie auch. Also nichts wie nach Hause und Freundinnen anrufen. Die Friseurin anquatschen, die Klavierlehrerin der Tochter und die Nachbarin natürlich. Beim Verlassen des Saals passieren sie zwei große Spiegel, über denen steht: „Das Wichtigste in diesem Betrieb sind … Sie!“