Aufarbeitung von NS-Kriegsverbrechen: Das braune Vermächtnis

In der Ludwigsburger "Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen" arbeiten die Ermittler daran, Kriegsverbrecher wie John Demjanjuk zu überführen.

Vergaste Juden, an die Wand geworfene Babys: Die NS-Verbrechen füllen in Ludwigsburg 1.200 Regalmeter. Bild: ap

Das Haus gleicht einer Festung. Hier, gegenüber dem Friedhof, in einem ehemaligen Ludwigsburger Frauengefängnis, in dem 1938 vorübergehend Juden eingesperrt wurden, hinter schweren Türen, die durch Zahlencodes gesichert sind, lagert das braune Vermächtnis Deutschlands. Auf 1,68 Millionen Karteikarten, gelb oder grün, in mannshohen grauen Metallkästen, sind Informationen über Akte der Unmenschlichkeit aus der Nazi-Zeit nachzulesen.

Die Beschuldigungen werden mit detaillierten Angaben untermauert: Daten und Orte der Verbrechen, Zahl um Zahl der unter unmenschlichen Bedingungen gefangen gehaltenen, vergewaltigten, gefolterten, hingerichteten Opfer. 680.000 Personen sind hier erfasst, das Grauen des Systems seziert in 1.200 Regalmeter Akten. Auf der Karte für Josef Mengele steht unter dem Stichwort "Spitzname": "Schrecken der Juden".

In der "Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltung zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen" arbeiten die Ermittler dafür, dass die Mörder endlich ihre Richter finden. "Wir sind zu 20 Prozent Juristen, zu 40 Prozent Historiker und zu 40 Prozent Ermittler", sagt Kurt Schrimm, Staatsanwalt und Leiter der Behörde. Sieben Ermittler setzen historische Puzzlestücke zusammen, die dann mit einer Schreibmaschine auf die Karteikarten übertragen werden. Elektronisch erfasst wurden die sensiblen Daten bisher noch nicht. Sollte es im Haus zu einem Unglück kommen, wäre das Wissen verschwunden.

Es geht um Gerechtigkeit in Ludwigsburg. Darum, dass in Zukunft niemand sagt, die Deutschen hätten ihre Verbrecher nicht gejagt, ihre Vergangenheit entsorgt. Die Aufgabe der Zentralen Stelle besteht in der Vorermittlung. Es werden Beweise gesammelt und ausgewertet, um anschließend die Akten den zuständigen Staatsanwaltschaften zu übergeben. Die Kompetenzen der Zentralen Stelle sind begrenzt: Sie hat keine autonomen Ermittlungsbefugnisse und keine Weisungsbefugnis. Eine Fehlentscheidung, die bei der Gründung 1958 beschlossen wurde, wie Schrimm findet. Denn durch die Weiterreichung der Unterlagen würde viel Zeit verloren gehen.

Die Boulevard-Presse nennt die Ermittler auch "Nazijäger". Eine Bezeichnung, die Schrimm komplett ablehnt. "Jagen ist eine Sportart. Wir suchen nach Mördern." Aber ist es nicht zumindest ein Kampf, den sie führen? Für die Sühne, so weit dies überhaupt noch möglich ist? "Na ja", wiegelt Schrimm ab. Seine Behörde zeige den Überlebenden, dass es der Bundesrepublik nicht egal sei, was früher passiert sei.

7.402 Vorermittlungsverfahren wurden seit Gründung der Zentralen Stelle 1958 eingeleitet.

17.856 Verfahren wegen nationalsozialistischer Verbrechen waren und sind seit 1958 bei Staatsanwaltschaften und Gerichten in der Bundesrepublik Deutschland anhängig geworden. Soweit diese nicht durch die Zentrale Stelle eingeleitet wurden, hingen sie doch zumeist mittelbar mit deren Tätigkeit zusammen.

Rund 1,68 Millionen Karteikarten enthält die Zentralkartei - gegliedert in Personen, Tatorte und Einheiten. Seit 2000 übernimmt das Bundesarchiv nach und nach die abgeschlossenen Verfahren, eine Dokumentensammlung von über einer halben Million Kopien. Das Archivgut steht jedem zur Nutzung offen.

24 Vorermittlungsverfahren sind momentan anhängig.

Einer, den sie jetzt gefunden haben, ist John Demjanjuk. Auf der Liste der zehn meistgesuchten Kriegsverbrecher, die das Simon-Wiesenthal-Zentrum aus Jerusalem veröffentlicht, stand dieser lange an zweiter Stelle. Zehn Monate arbeiteten zwei Ludwigsburger Ermittler an dem Fall, bevor sie die Ergebnisse an die Staatsanwaltschaft in München übergaben.

Nach langem juristischem Hin und Her wurde der gebürtige Ukrainer im Mai von den USA nach Deutschland abgeschoben und sitzt seitdem in der Justizvollzugsanstalt Stadelheim im Süden Münchens - in einer 24 Quadratmeter großen, behindertengerechten Zelle. Nun wurde Anklage gegen den mutmaßlichen KZ-Aufseher erhoben und im Herbst soll womöglich der Prozess beginnen. Der Vorwurf: Beihilfe zum Mord in mindestens 27.900 Fällen während seiner Zeit als Wachmann im Vernichtungslager Sobibór 1943.

Demjanjuk streitet alles ab, was Schrimm nicht wundert. "Ich habe erst einen Geständigen erlebt", erzählt er, "aber der hat seine Aussage später zurückgenommen." Auch Reue eines Täters habe er in seinen zweieinhalb Dienstjahrzehnten noch nie erlebt. Warum dieses ewige Leugnen, obwohl die Beweislast so erdrückend ist? "Die Täter glauben irgendwann so fest an ihre Unschuld, die haben ihre eigene Wahrheit."

Für die deutsche Justiz wird das Verfahren eine Premiere: Zum ersten Mal wird ein ausländischer Scherge aus dem letzten Glied der Befehlskette nicht als "Exzesstäter" belangt, sondern weil er mithalf, die Mordmaschinerie am Laufen zu halten. Was ist die gerechte Strafe für solch einen Handlanger, der sich als Kriegsgefangener in die Dienste der SS stellte? Und sollte es zu einer Verurteilung Demjanjuks kommen, wie hoch könnte die Strafe ausfallen? Schrimm antwortet vage. Nur so viel: Er geht von keiner allzu hohen Strafe aus. Der Prozess wird zeigen, was ihre Arbeit wirklich wert war.

Dreizehn Jahre nach Kriegsende und knapp zehn Jahre nach Abschluss der Nürnberger Prozesse nahm am 1. Dezember 1958 die Zentrale Stelle ihre Vorermittlungstätigkeiten auf, mit dem Auftrag, die Ermittlungsarbeit gegen NS-Täter zu systematisieren.

Plötzlich verfolgten Deutsche Deutsche und setzten sich mit ihrem Weltanschauungs- und Vernichtungskrieg auseinander. Während im letzten Jahr die Behörde ihr 50-jähriges Bestehen mit großem politischem Tamtam feierte, war sie zu Beginn eher unbeliebt. Mitarbeiter erhielten anonyme Drohanrufe, wurden als "Nestbeschmutzer" beschimpft, fanden in der Stadt schwer Wohnungen. Einen Mitarbeiter, der mit einem Taxi zur Arbeit fahren wollte, fragte der Fahrer: "Sie wollen zur Zentralen Stelle, meine Kameraden verfolgen?"

Knapp 8.000 Verfahren

In einer Allensbach-Umfrage sprachen sich im August 1958 nur 54 Prozent der Befragten für eine weitere Verfolgung der NS-Verbrechen aus. Trotz heftigem Gegenwind konnte die Zentrale Stelle ihre Arbeit weiterführen, und das sehr erfolgreich. Bis heute leiteten die Ludwigsburger Staatsanwälte mehr als 7.402 Ermittlungsverfahren gegen zusammen knapp 106.000 Personen ein. "Uns Staatsanwälte mag niemand", sagt er und lacht. "Den Opfern sind wir zu lasch, den Tätern zu hart, den Gerichten machen wir Arbeit." Schrimm, 1949 in Stuttgart geboren, studierte Jura in Tübingen. Nach einem Jahr als Jugendrichter begann er in der 1980ern bei der Stuttgarter Staatsanwaltschaft, Abteilung Kapitalverbrechen.

Ein Höhepunkt seiner damaligen Arbeit war der Fall des SS-Oberscharführers Josef Schwammberger. Schrimm hatte nahezu allein ermittelt und den Verbrecher nach seiner Festnahme 1987 sechs Tage lang vernommen. Schwammberger war von 1942 bis 1944 Kommandant verschiedener SS-Zwangsarbeiterlager und für seine Kaltblütigkeit bekannt. Im Verhör erlebten Schrimm und seine schriftführende Sekretärin jedoch einen charmanten alten Mann.

Nach dem ersten Tag im Verhörraum sagte die Sekretärin: "Dieser nette alte Mann kann diese Dinge nicht getan haben." Man habe ihm nicht angesehen, dass er Babys ihren Müttern aus den Händen gerissen und an die Wand geworfen hat. "Erst in den letzten der sechs Tage begann ich, ihn mit dem Krieg zu konfrontieren. Die Blicke, die er mir zuwarf, und sein Ausdruck waren nicht mehr die eines netten alten Mannes", erzählt Schrimm.

Welche inneren Schalter werden umgelegt, wenn ein scheinbar freundlicher Herr Juden ins Gas schickt? "Es sind die Umstände, die jemanden dazu bringen", glaubt Schrimm. Schwammberger stritt zwar alle Anklagepunkte ab, er sei zwar dort gewesen, habe aber von nichts gewusst und auch niemanden getötet. Dennoch wurde er 1992 zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt und starb 2004 im Gefängnis im Alter von 92 Jahren.

Seit 2000 leitet Schrimm die Zentrale Stelle. Er hat einen dieser Jobs, der so viele Akten mit sich bringt, in dem man gegen die Zeit arbeiten muss und bei dem die Ernüchterung rasch eintritt. Denn er steht inzwischen unter enormem Druck. Viele Täter leben nicht mehr, und frische Fälle werden immer weniger. Wie das gesamte Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen aussah, wird wohl nie ganz geklärt werden können. "Wir wissen, dass unsere Arbeit nicht immer zu Ende gebracht werden kann. Aber es ist für uns ein Erfolg, wenn wir sagen können, wir haben eine Sache aufgeklärt", sagt Schrimm.

In seinem schmucklosen Büro hängt eine Weltkarte, durchaus symbolisch für seine Tätigkeit. Mehrmals im Jahr fliegt er um die Welt, nach Israel, Argentinien oder Russland. Gerade ist er aus Chile zurück, jetzt arbeitet er in Brasilien, um sich Einwanderungsakten anzuschauen. Ob es für die Opfer nicht problematisch sei, wenn deutsche Ermittler auftauchen? "Nein", antwortet Schrimm und erzählt von einer Frau, die im Konzentrationslager an einem Tag elf Angehörige verloren hat. "Ich habe über 40 Jahre darauf gewartet, dass sich bei mir ein offizieller Vertreter Ihres Landes meldet", begrüßte sie ihn freudig in den USA.

Und sein Fazit, das nach ausdauernden Recherchen und vielen Blicken in menschliche Abgründe bleibt? "Zusammen leisten wir hier etwas Historisches", sagt Schrimm, will dabei aber bloß nicht überheblich erscheinen. Er zeigt es durch ein verschmitztes Lächeln. Die heimliche Freude ist nur ein Sekundenphänomen. Denn noch gibt es sie: die letzten lebenden NS-Kriegsverbrecher.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.