Was von der DDR-Mauer blieb: 500 Meter Geschichte

1.400 Kilometer innerdeutsche Grenze gab es mal. Jetzt ist alles weg bis auf ein Stück Original-Todesstreifen in Sachsen-Anhalt.

"Denkmal von nationaler Bedeutung": Mauer in Hötensleben. Bild: dpa

Dieter Buchwald weist mit der Hand aus dem Fenster und bekräftigt: "Das hier ist ein Denkmal von nationaler Bedeutung!" Es ist ein Satz, den er heute schon öfter gesagt hat, als gebe es hier einen, der zweifeln würde. Der Regulator zerhackt die Minuten, an der Wand hängt ein Stillleben, nur von Zeit zu Zeit dringt Grollen durch die Wände, kaum zu vernehmen im Haus des Bürgermeisters von Hötensleben in Sachsen-Anhalt. Am "Denkmal von nationaler Bedeutung" verlieren sich heute die Besucher. Gerade peitscht Regen über die Wiese an der alten innerdeutschen Grenze.

Wiese? Dazu hat Buchwald eine Episode parat. War er neulich zu Besuch in Berlin und da hat der Stadtführer in der Bernauer Straße auf die Fläche vor der ehemaligen Mauer gewiesen und arglos die Besucher gefragt, wie sie das wohl nennen würden? Todesstreifen etwa? Das war das Sicht- und Schussfeld, hat Dieter Buchwald klargestellt und was war das anderes als ein Todesstreifen? "Eine total rote Socke!" Buchwald schüttelt sich, als hätte er eine Erscheinung gehabt. Und als diese Socke noch anfing, dass ja jeder wusste, dass so eine Flucht gefährlich war, hat Buchwald ihn angeherrscht: Sie sind der verkehrte Stadtführer!

Seltsame Dinge passieren in der Hauptstadt. Jetzt sitzt Buchwald an seinem Wohnzimmertisch. Hötensleben ist nicht Berlin. Und das liegt auch an dem 67 Jahre alten Buchwald. Dieter Buchwald ist seit 1990 Bürgermeister und maßgeblich daran beteiligt, dass der Ort mit seinen 2.600 Einwohnern bald in einem Atemzug genannt wird mit Helgoland, der Dresdner Frauenkirche und dem Brandenburger Tor - ganz besondere deutsche Orte. Lächerlich? Vielleicht. Doch Hötensleben hat etwas, was Berlin versäumte zu bewahren: fünfhundert Meter nahezu komplett erhaltene innerdeutsche Grenze - Mauer, Hinterlandzaun, Signaldrähte, Türme, Lichtfelder, Gräben, Panzersperren - kurz: die ganze Perfektion, die die DDR sonst nur selten erreichte, hier an der Grenze aber auf 1.400 Kilometern und nur, um "Republikflüchtlinge" aufzuhalten, im Zweifelsfalle mit der Kalaschnikow. Ein Denkmal also von nationalem Rang, und das vor Dieter Buchwalds Haus.

Sicher, wenn der Bürgermeister redet, hängt die nationale Bedeutung gelegentlich schon wie Kölnisch Wasser in der Luft, und weil er heute schwarz gekleidet ist, wirkt er wie ein Hohepriester der deutschen Geschichte. Doch die Sache ist eine deutsche demokratische: Der Runde Tisch der Gemeinde habe nach dem Fall der Mauer bestimmt, dass ein Stück der Grenze zu bewahren sei, erzählt Buchwald, der damals als Vertreter der CDU mit am Tisch saß.

Und so hat er den Bürgerwillen bald als neugewählter Bürgermeister umgesetzt, anfangs oft direkt vom Wohnzimmer aus. Souvenirjägern und Schrotthändlern hat er gleich aus dem Fenster gedroht. Dass er den "demokratischen Schutzwall" der SED so vehement verteidigen würde, hat er sich nicht träumen lassen. 1966 sei er in dieses Haus gezogen, erzählt er. Hötensleben lag im 500-Meter-Streifen, ein Sperrgebiet im größeren Sperrgebiet. Hier endete das "sozialistische Lager", das irgendwo weit im Osten an der Beringstraße begann, die Sowjetunion umspannte, die "sozialistischen Staaten" von Polen bis Bulgarien umschloss und die DDR bis zum Streckmetallzaun kurz hinter Buchwalds Garten, als wäre diese halbe Welt nur ein luftiger Karnickelstall.

Wie soll man das jemandem erklären, der das nicht mehr erlebt hat? Dieter Buchwald, einst findiger Ingenieur im hiesigen Armaturenwerk, zeigt seine Hände her, schließt sie wieder und wieder und sagt dabei: "Man begreift besser durch Begreifen!" Buchwald blickt aus dem Fenster, als fürchtete er, dass die Grenze verdunstet. Eigentlich hätte die DDR darauf achten müssen, dass ihr zumindest geografisch erster Repräsentant in Hötensleben halbwegs eine "sozialistische Persönlichkeit" hergibt, und die SED hat bis 1961 auch hunderte politisch unzuverlässige Familien aus dem Sperrgebiet ins Landesinnere deportiert.

Buchwalds Potenzial ist der Partei offenbar entgangen und so war er, abgesehen von seiner Mitgliedschaft in der Ost-CDU, das, was man einen Steher nennt, ein frommer dazu. Als der Pfarrer das Dorf verließ, hat er sieben Jahre, abwechselnd mit seinem Bruder, sonntags Gottesdienst gehalten. Und als kleine Erinnerung, dass hier nicht nur der eine, sozialistische Geist weht, haben sie den Kirchturm wieder mit Blech beschlagen, der fortan wie ein blitzendes Messer den Luftraum der DDR ankratzte.

So einer achtet heute peinlich drauf, dass sich der "Schutzwall" nicht in Luft auflöst. Buchwald hat die sechs Hektar Grenze gut durch die Zeit gebracht. Schon im Januar 1990 wurden sie als Denkmal anerkannt, ein Verein hat sich gegründet, das Areal ist beschildert, eine Toilette errichtet, der Tourismus angekurbelt, und als Krönung war im vorigen Sommer Horst Köhler hier. Mehr geht nicht? Heutzutage finden die Scorpions nach Hötensleben, pfeifen ihr "Wind of Change" und manchem wird das Herz wohlig puckern - allerdings eher bei der Generation 40 plus. So haben sie jedenfalls schon Michail Gorbatschow bezirzt, bis er sie 1991 in den Kreml einlud, damals, als er noch Parteichef war.

Dieter Buchwald stützt sich derweil beim Sprechen, wie es Politiker gern tun, auf der Tischplatte ab, redet von dem vielen Herzblut, das im Grenzdenkmal stecke, und auch von den Fördermitteln, da dringt plötzlich Hupen von der Straße herein. Buchwalds Frau sitzt schon im Auto, Blumen auf dem Rücksitz. Buchwald wirft sich ein Sakko über. Es geht augenblicklich los. Zu den Scorpions? Ach was, zur goldenen Hochzeit. Ein Bürgermeister hat noch andere Pflichten.

René Müller gehört mit dem Geburtsjahr 1968 zu der Generation, die "Wind of Change" mit dem politischen Beben verbindet, das den Ostblock in ein paar Monaten um 1990 komplett zerlegte. Hier neben der Holzbude, wo Müller jetzt sitzt, war eine der Bruchkanten. Und wieder fegen Naturgewalten über den Platz. Glücklich ist der stellvertretende Vorsitzende des Grenzdenkmalvereins nicht, dass Blitz und Donner den ehemaligen Todesstreifen verdüstern, schließlich läuft hier seit einem Tag das Open-Air "Rock am Denkmal". Gerade hat er zu reden begonnen, da prasselt es wieder los.

Als er den Stapel Prospekte ins Trockene gebracht hat, macht Müller, ein Hötenslebener, klar: Das da, er wendet den Kopf Richtung Bühne, sei nicht unbedingt seine Musik. Dann sagt er: "Die Jugend, die hier ranwächst, soll sehen, wozu eine Diktatur in der Lage ist!" Sehen kann man von hier aus den Beobachtungsturm BT-11 mitsamt Bunker. Der Kolonnenweg, auf dem einst die Trabant-Kübel der Grenztruppen rollten, läuft auf die Bühne zu und wird von ihr geradewegs verschlungen. Dass die DDR auch in René Müllers Leben hineingepfuscht, ihm das Abitur verwehrt hat, ist bei aller Authentizität hier nicht zu sehen.

Und weil der Verein für die inhaltliche Arbeit zuständig ist, hat Müller, der sein Geld in Salzgitter im Stahlwerk verdient, eine Ausstellung über "Jungsein in der Diktatur" vom Verein "Freiheit e. V." aus Erfurt hergeholt, quasi als bildungspolitisches Unterfutter der Musik. Die Ausstellung, ihr Titel "Von Liebe und Zorn", erzählt von zwei Jugendlichen aus Erfurt, die von San Francisco und Pink Floyd träumten, die durch die DDR trampten auf der Suche nach dem Zipfel Freiheit und die immer tiefer hineingerieten in das Disziplinierungsgetriebe der Staatsmacht.

Das karge hellgraue Zelt, unter dem sich die Ausstellung verbirgt, wirkt zwischen den bunten Promotion- und Bierständen wie ein Überbleibsel der DDR. 160 Besucher am ersten Tag, die Ausstellungsmacher zufrieden, das Gästebuch füllt sich. Schon der erste Eintrag scheint in Stein gemeißelt: "Mit Rock am Denkmal wollen wir jungen Menschen die Möglichkeit geben, sich mit der Geschichte der Diktatur in der DDR auseinanderzusetzen." Sein Urheber - Dieter Buchwald.

In René Müllers Stand hat inzwischen ein gebeugter Herr das Kommando übernommen. Bernd Gottschalck hat zu den Prospekten über das Grenzdenkmal, zu den Karten des Netzwerks für Demokratie und Toleranz und zu den Broschüren mit dem Grundgesetz seine eigenen Hefte hinzugefügt. In der Broschüre beschreibt der Autor "Mauerfallerlebnisse in Hötensleben und Umgebung", sein Titel "Außer Kontrolle".

Liegt es nun an dem Wind, an den Würsten oder an der Kohle - außer Kontrolle gerät heute Abend jedenfalls der Bratwurststand. Dicke Rauchwolken ziehen über den Grenzstreifen, bevor sich die Feuerwehr einen Weg durch die Menschen bahnt. Irgendwann ist auch Dieter Buchwald zu sehen. Bald erklimmt der Bürgermeister die Bühne: "Ich freue mich! Auf der Gedenkstätte der deutschen Teilung, wo Menschen geteilt waren, jetzt sind wir vereint …" Vor allem seine inbrünstige Stimme macht, dass er wie ein Laienprediger klingt. Jahrelange Übung. René Müller ahnt das auch. "Mensch, mach hin!", stöhnt er.

Stunden später wird Klaus Meine von den Scorpions von derselben Stelle aus fragen: "Are you ready to rock?" Wahrheitsgemäß dürfte Dieter Buchwald geantwortet haben: Nein. Was soll man machen? Die geistliche Musik liege ihm näher, hat er erzählt, eine Tochter ist Kirchenmusikerin, zwei Söhne waren in Leipzig Thomaner. Immerhin wird er bleiben bis zum Schluss. Während sich die Wolken lichten, laufen hinter der Bühne Spaziergänger über das einstige "Sicht- und Schussfeld", in der Abendsonne wirken sie wie Pilzsucher. Fast schon pittoresk. Im Grenzabschnitt Hötensleben kam es zwischen 1961 und 1989 zu 332 Festnahmen von "Republikflüchtigen", zu 225 "Grenzdurchbrüchen", darunter 24 Fahnenfluchten. Acht Menschen wurden durch Minen verletzt, einer wurde hier getötet.

Neben dem Streckmetallzaun scharren Hühner im Boden, Schafe grasen auf der Wiese. Dieter Buchwalds Getier. Er hat dieses Stück gepachtet, gleich neben der Grenze. Ja, hatte er gelacht, als Rentner habe er wieder Zeit fürs Vieh. Vermutlich ist das nur die halbe Wahrheit. Hier soll einfach kein Gras drüber wachsen.

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