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Archiv-Artikel

Leg dir ein paar Eier zu

PASSION Sebastián Lelios’ „Gloria“ (Wettbewerb)

Gloria heißt die titelgebende Hauptfigur in Sebastián Lelios viertem Spielfilm. Cassavetes ist natürlich die erste Assoziation: Gena Rowlands als älteres Gangsterliebchen, das sich für das Leben eines kleinen Jungen einsetzt und sich dafür mit der Mafia anlegt.

Auch Lelios Gloria, gespielt von Paula García, geht es um nichts weniger als das Leben, ihr eigenes, und zwar vom ersten Moment an. „Gloria“ ist eine Liebeserklärung an García, der jede Szene des Films gehört: beim Tanzen, beim Sex, beim Wachsen der Beine.

Sie dürfte mit dieser Rolle gute Aussichten auf einen Darstellerpreis haben, denn diese Leidenschaft und Nähe haben im Wettbewerb bislang gefehlt. Gloria ist eine berufstätige Frau um die 60 in Santiago de Chile, alleinstehend, zwei erwachsene Kinder, ohne emotionalen Halt im Leben. Nachts sucht sie Kontakt auf Singlepartys, wo Frauen ihres Alters wieder die Sichtbarkeit erlangen, die ihnen die Gesellschaft nicht mehr zugesteht. Hier lernt sie den geschiedenen Rudolpho kennen, mit dem sie eine Nacht verbringt.

Als er sich danach wieder meldet, scheint sich für einen Moment Glorias Hoffnung zu erfüllen, ihrer Einsamkeit entkommen zu können. Lelio beschreibt einen Ausschnitt aus der chilenischen Mittelschicht, die sich selbst fremd geworden ist. Ein Nachbar Glorias leidet unter einer Persönlichkeitsstörung, ihr Exmann wird bei einer Familienfeier ohne ersichtlichen Grund ausfällig, das Verhältnis zur Tochter ist spürbar belastet.

Und Rudolpho steht unter dem Regime seiner Exfrau und seiner beiden Töchter, die sich von ihm finanziell aushalten lassen und ihn dafür emotional abhängig gemacht haben. Zwischen diesen Figuren wirkt Gloria reichlich verloren. Ihre Versuche, mit Mitmenschen in Kontakt zu treten, sind permanent zum Scheitern verurteilt. Lelio schildert diesen Selbstfindungsprozess als humorvollen Übergangsritus inklusive gelegentlicher Rückschläge.

Rudolpho erweist sich dabei als härteste Bewährungsprobe. Seine Unfähigkeit, die Kontrolle über sein eigenes Leben zu übernehmen, kollidiert immer wieder mit ihren eigenen Befreiungsschlägen. „Leg dir ein paar Eier zu“, empfiehlt sie ihm, als sie ihn das erste Mal in die Wüste schickt.

Es gibt noch eine andere kulturelle Referenz, etwas weniger naheliegend als Cassavetes, in der Gemengelage aus Singlepartys und Familienfeiern hat sie durchaus ihre Berechtigung. Umberto Tozzis Italopop-Stück „Gloria“ hat in Chile genug Eindruck hinterlassen, um als Hymne weiblicher Selbstverwirklichung zu fungieren. Musik ist ohnehin treibende Kraft in „Gloria“. García strahlt besonders in den Tanzszenen ungebrochene Lebensfreude aus, die dann auch die Klischees vergessen macht, mit denen bei dieser Art Feelgood-Film zu rechnen ist. Mit ihrer Paintball-Revanche hat sie sich am Ende jedenfalls in die Zuschauerherzen geschossen.

ANDREAS BUSCHE

■ Heute, Friedrichstadt-Palast, 9.30 Uhr; International, 22.30 Uhr; 12. 2., Odeon, 18.30 Uhr, 17. 2. Berliner Festspiele, 19.30 Uhr