Wahlen in Afghanistan: Verbündet mit lauter Feinden

Der afghanische Präsident Hamid Karsai will versöhnen und schart dabei die korrupteste Regierung um sich. Doch zu Karsai gibt es immer noch keine Alternative.

Noch hat der afghanische Präsident Hamid Karsai wenig Grund zum Feiern. Bild: dpa

KABUL taz | Hamid Karsai sieht schlecht aus dieser Tage. Dünn ist er geworden, und unter den Augen trägt er zwei Reihen dunkler Ringe. Am Dienstagmorgen schlug eine Rakete auf dem Gelände des Präsidentenpalastes in Kabul ein, wo der 52-Jährige mit seiner Frau und dem kleinen Sohn Mirwais lebt.

Einige Tage zuvor hatte ein Hubschrauber Flugblätter seines Herausforderers Abdullah Abdullah in seinem Garten abgeworfen. Die Botschaft an den afghanischen Präsidenten ist deutlich: Er soll sich nicht sicher fühlen, auch wenn er in den Umfragen zu den Präsidentschaftswahlen am Donnerstag vorn liegt. Weder die Taliban, auf deren Konto der Raketenabschuss ging, noch die Anhänger Abdullahs gönnen ihm einen leichten Sieg.

Dabei lief eigentlich alles recht glatt für Karsai in den vergangenen Wochen. Noch am Montagabend, dem letzten Tag, an dem Wahlkampf erlaubt war, hatte er auf Ariana TV einen großen Auftritt. Eine Stunde gab ihm der Sender, um in einem zahmen Interview seine gescheiterte Politik zu erläutern. Außer einem florierenden Drogenhandel hat seine Regierung in den vergangenen fünf Jahren kaum Erfolge vorzuweisen.

Weite Teile des Landes sind wieder in der Hand der Taliban, und die Regierung gilt als eine der korruptesten der Welt. Einen Plan, wie es weitergehen soll, hat Karsai nicht. Aber der Präsident dozierte in aller Ruhe über Afghanistans Fortschritte und plauderte aus dem politischen Nähkästchen.

Als er 2002 seinen Job antrat, so Karsai, sei er überrascht gewesen, dass so viele seiner Minister bereit waren, sich heftig gegenseitig zu bekämpfen. Angesichts der bunten Schar von Warlords und Kriegsverbrechern in seinem Kabinett klingt das überraschend naiv. Aber vielleicht ist es ein Schlüssel zu Karsais Amtsverständnis und der Grund seines Scheiterns: Karsai will versöhnen - und Versöhnung braucht sein geschundenes Land dringend. Dabei übersieht er, dass Versöhnung ohne Gerechtigkeit nicht möglich ist.

Es ist leicht, dem Vertreter einer einflussreichen Paschtunenfamilie aus dem Dorf Karz bei Kandahar Machthunger zu unterstellen. Warum sonst umgibt er sich mit Männern, die jeder aufrechte Afghane für ihre Brutalität verabscheut und die seine westlichen Verbündeten in Erklärungsnot bringen? Doch die Lage ist etwas komplexer.

Als Karsai von den USA 2001 rechtzeitig nach Afghanistan zurückgebracht wurde, um als siegreicher Kämpfer gegen die Taliban zum Übergangspräsidenten ernannt zu werden, hatte er wenig mehr zu bieten als seine Herkunft. Aus dem Stamm der Durrani-Paschtunen, zu dem auch die Königsfamilie gehört, rekrutiert Afghanistan seit Jahrhunderten seine Herrscher. Eigene Truppen hingegen hatte Karsai nicht. Und sie fehlen ihm bis heute.

So kommt es denn, dass am Sonntag einer der Männer, die Karsais gesamtes Politikverständnis in Misskredit gebracht haben, triumphal in Kabul einziehen konnte: Der berüchtigte Warlord Abdul Raschid Dostum, dem ein Prozess wegen Kriegsverbrechen droht, kehrte aus der Türkei zurück und wurde von seinen Anhängern mit einer großen Party empfangen.

Karsai hatte Dostum erst kürzlich auf Druck der USA aus seinem Kabinett entfernt - nun holte er ihn zurück. Dostum hat fast die gesamte usbekische Bevölkerung hinter sich. Und für Karsai können diese 10 Prozent der Stimmen wahlentscheidend sein.

Aber das ist nicht die einzige Realität. Eine andere ist ungemütlicher: Auch wenn viele Afghanen die Warlords hassen - gerade unter den einfachen Menschen, die oft in feudalistischen Abhängigkeitsverhältnissen von den lokalen Machthabern leben, haben sie ihre Anhänger. Wie frei ist eine Wahl, wenn die Wähler nicht frei sind?

Und so schickt Karsai denn Dostum zu den Usbeken und seinen Stellvertreter Karim Khalili zu den Hazara. Exverteidigungsminister Qasim Fahim ist an Bord, um die Wählerbasis seines einstigen Mitstreiters Abdullah unter den Tadschiken zu spalten. Kann sein, dass Karsai sich einredet, diese Politik, die ihm vermutlich die Wiederwahl sichern wird, sei im Dienste der Nation. Vor allem aber ist sie eines: alternativlos. Wer seinen Feind nicht besiegen kann, muss sich mit ihm verbünden.

Den Taliban, denen Karsai in der Zeit des Bürgerkriegs nahestand und die ihn sogar zu ihrem UN-Botschafter in New York machen wollten, streckt er immer wieder einen Ölzweig entgegen - auch wenn sie ihn bisher nicht angenommen haben. Er betrachtet die radikalislamischen Milizen nicht als Feinde, sondern als "Söhne Afghanistans". Auf Ariana TV beteuerte er am Sonntag: "Selbst wenn sie tausendmal ablehnen, ich werde sie 1001-mal einladen, sich an der Regierung zu beteiligen."

Einer amerikanischen Journalistin nannte er kürzlich, ohne mit der Wimper zu zucken, Mahatma Gandhi als sein politisches Vorbild. Aber Karsai, der in Indien Politikwissenschaften studierte, hat seinen Gandhi nicht gründlich gelesen. Dessen Gewaltfreiheit beruhte auf einer moralischen Strenge, die keine Zweideutigkeit zulässt. Bei Karsai hingegen hat die Politik der ausgestreckten Hand dazu geführt, das System feudaler Abhängigkeiten zur Korruption im großen Stil zu pervertieren.

Dabei hat auch der Westen es sich zu leicht gemacht. Während Karsai in der traditionellen Stammespolitik verhaftet bleibt, wurde nie ernsthaft versucht, moderne politische Strukturen in Afghanistan zu etablieren. Der Versuch, die Rolle der Parteien in der Verfassung zu verankern, scheiterte am Widerstand Karsais und Washingtons.

Und so ernennt der Präsident denn in Ermangelung einer eigenen Machtbasis seine Provinzgouverneure im Tauschhandel gegen Wählerstimmen. Wie ein Insider aus der Regierung berichtet, haben sogar Staatssekretäre eine feste Anzahl an Provinzgouverneuren, die ihnen abgabenpflichtig sind.

Nicht nur wegen des Dauerverdachts, dass sein Halbbruder Ahmad Wali im großen Stil in den Drogenhandel involviert ist, wirft Herausforderer Ashraf Ghani Karsai vor, er regiere Afghanistan wie ein Mafia-Pate. Dabei verschweigt er, dass Karsai kaum eine andere Wahl hat. Anders als seine Verbündeten, die Warlords, hat er keine eigene Armee. Sein Einfluss ruht auf drei Säulen: den ausländischen Truppen, Geld und der Ideologie der Versöhnung.

Letztere braucht er umso dringender, als er sich auch auf seine Verbündeten Dostum, Fahim und Khalili nicht verlassen kann. Diese Männer haben in der Vergangenheit oft bewiesen, dass sie zum Seitenwechsel fähig sind. Deshalb fürchtet Karsai kaum etwas mehr als einen zweiten Wahlgang - der nötig wird, wenn er in der ersten Runde nicht die absolute Mehrheit der Stimmen erhält. Falls Abdullah, der nach letzten Umfragen mit etwa 20 Prozent der Stimmen rechnen kann, gut abschneidet, ist es möglich, dass Karsais Gelegenheitskoalition im kommenden Monat zerbricht.

Er hat sich deshalb auch die paschtunischen Bürgerkriegsfraktionen ins Boot geholt, die den Taliban in puncto Radikalismus in nichts nachstehen. Allen voran die Hisb-i-Islami, die Partei des berüchtigten Warlords Gulbuddin Hekmatjar, den die USA bereits mehrfach zu eliminieren versucht haben, der aber dennoch im Kabinett Karsai mehrere Minister stellt. Auch Rasul Sayyaf zählt dazu. In der Öffentlichkeit ist deshalb der Eindruck entstanden, dass ein krimineller Background das beste Zeugnis für einen Regierungsposten ist.

Dabei merkt Karsai - wie auch das ihn unterstützende Ausland - nicht, dass er auf diese Weise jeglichen Fortschritt in Afghanistan blockiert. Denn die Gesellschaft ist acht Jahre nach der Vertreibung der Taliban eigentlich schon viel weiter. In den vergangenen Jahren ist - mithilfe ausländischer Hilfsgelder und bedingt durch die Rückkehr zahlreicher junger, im Ausland geschulter Afghanen - eine neue Mittelschicht entstanden. Der Privatsender Tolo TV bringt mit indischen Filmen, Musiksendungen und einem respektlosen, frechen Journalismus ihr Lebensgefühl auf den Punkt.

Lange Zeit hat Karsai diese junge, städtische Mittelschicht als Wähler nicht ernst genommen. Der Eiertanz, den er in den vergangenen Wochen um seine Fernsehauftritte aufführte, ist ein Beispiel dafür. Das erste Kandidatenduell in der Geschichte Afghanistans zwischen Karsai, Abdullah und Ashraf Ghani auf Tolo TV sagte der Präsident in letzter Minute ab - angeblich weil der Sender seinen Herausforderer Abdullah favorisiere. Doch damit lieferte er seinen Gegnern eine Steilvorlage.

Karsai, so das einhellige Urteil in der Öffentlichkeit, kneift. Und "Feigheit vor dem Feind" kommt nicht gut an in einem Land, in dem Mut und Männlichkeit zu den höchsten Werten zählen. So sah sich der Amtsinhaber denn gezwungen, am vergangenen Samstag doch noch zu einer Debatte im TV zu erscheinen - im Staatssender RTA. Aber sein Auftritt war kein Erfolg.

Gegen seinen ehemaligen Finanzminister Ashraf Ghani, einen Harvard-geschulten Intellektuellen mit einem Zehnjahresplan für die Entwicklung Afghanistans, hatte Karsai weder inhaltlich noch rhetorisch eine Chance. Und selbst gegen den polternden Populisten Ramazan Bashardost, der mit seiner Antikorruptionskampagne in den Umfragen an Ghani vorbeigezogen ist und an dritter Stelle liegt, sah Karsai alt aus. Im Gegensatz zu Karsai nimmt man Bashardost ab, dass er "sauber" ist.

Noch spiegelt sich die neue Debattenkultur des jungbürgerlichen Afghanistan, das von seinen Politikern Argumente und Verantwortung verlangt, nicht in der Politik. Aber ignorieren - das ist eine Lehre aus diesem Wahlkampf - kann sie sie auch nicht mehr. Vielleicht ist das die einzige Hoffnung für Afghanistan: Dass Karsai als Mann des Übergangs das "Gleichgewicht des Schreckens" so lange halten kann, bis die neue Generation so weit ist, das Ruder zu übernehmen. Ein dankbarer Job ist das nicht.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.