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Archiv-Artikel

Lichtblick für Gaza

Mit der Teilöffnung des Gaza-Streifens wird die israelische Besatzung zur Belagerung. Das weist den Weg für eine ökonomischen Entwicklung – ohne die es keinen Frieden gibt

Ministerpräsident Scharon ist an die Grenzen seines Unilateralismus gestoßen

Nach langem Ringen hat sich James Wolfensohn, ehemaliger Weltbankpräsident und jetzt Sonderbeauftragter des Nahost-Quartetts aus USA, EU, UN und Russland für den Gaza-Streifen, doch durchgesetzt. Mit massiver Unterstützung der US-amerikanischen Außenministerin Condoleezza Rice hat er eine – zumindest teilweise – Öffnung der Grenzen zum Gaza-Streifen erreicht. Die mühsame erzielte Einigung begründet zwar keine Hoffnung auf eine Wiederaufnahme von substanziellen Friedensverhandlungen. Das amerikanisch-europäische Engagement signalisiert jedoch endlich eine gewisse Handlungsbereitschaft, um die Lebenssituation der PalästinenserInnen im Gaza-Streifen etwas zu verbessern.

Die Anwesenheit der amerikanischen Außenministerin Rice und des EU-Beauftragten Javier Solana aus Anlass der Feierlichkeiten zum zehnten Jahrestag der Ermordung des ehemaligen Ministerpräsidenten Jitzhak Rabin in Israel nutzte Wolfensohn geschickt, um insbesondere die sich sträubende israelische Regierung zu überfälligen Entscheidungen zu drängen, die den seit Monaten faktisch eingesperrten 1,3 Millionen PalästinenserInnen im Gaza-Streifen Bewegungsfreiheit verschaffen sollen und vorsichtige Hoffnungen auf eine Verbesserung der katastrophalen wirtschaftlichen Lage wecken.

Das erzielte Abkommen ist in seinem Regelungsgehalt zwar ziemlich dürftig. Dennoch war es unerlässlich, um ein Abgleiten des Gaza-Streifens ins politische und wirtschaftliche Chaos zu verhindern. Durch den militärischen Rückzug Israels nach 38 Jahren der Okkupation haben sich die wirtschaftlichen Aussichten für die PalästinenserInnen keineswegs verbessert. Faktisch und völkerrechtlich stellt der Rückzug – neben der historisch und politisch sicherlich bedeutsamen Evakuierung der völkerrechtswidrigen Siedlungen – eine Truppenverlagerung des israelischen Militärs an die Grenzen des Gaza-Streifens dar, denn auch in Zukunft will Israel die Zugänge zum Gaza-Streifen über Land, Wasser und Luft kontrollieren. So bedeuten Rückzug und Evakuierung zwar das Ende der jüdischen Kolonisierung des Gaza-Streifens – und darin liegt seine historische Bedeutung –, doch keineswegs ein Ende der Besatzung. Eher geht sie in eine Belagerung über.

Die Weltbank prognostizierte deshalb eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation nach dem Abzug. Schon jetzt beträgt die Arbeitslosigkeit offiziell 35 Prozent, etwa zwei Drittel der Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze. Entwicklungs- und damit Friedenschancen bestehen lediglich, so die Weltbank, wenn sich die ökonomischen Rahmenbedingungen ändern.

Das jüngste Gaza-Abkommen wird zumindest teilweise Abhilfe schaffen: Am palästinensisch-ägyptischen Grenzübergang Rafah soll sich nun das erste Mal wieder ein Schlupfloch für die PalästinenserInnen aus dem Gaza-Streifen öffnen. EU-Grenzbeamte werden das ägyptisch-palästinensische Grenzregime beaufsichtigen – und Israel ist per Videoüberwachung immer dabei. Ob diese Regelung für die PalästinenserInnen endlich eine gewisse Freizügigkeit bringt, wird sich erweisen müssen. Bemerkenswert ist, dass der – in Israel ungeliebten – EU zum ersten Mal eine derartige Funktion zugestanden wurde. Der italienische General Pistoletto soll nun mit zirka 40 EU-Beobachtern dafür sorgen, dass Waffenschmuggel und Terroristeninfiltration unterbleiben. Der Verhandlungserfolg des Quartett-Beauftragten Wolfensohn und nun eine Präsenz der EU in der Region, die über finanzielle Unterstützung und wirtschaftliche Hilfen hinausgeht, könnte das in den letzten zwei Jahren sanft entschlafene Nahost-Quartett neu beleben. Insofern ist die neu übernommene Aufgabe auch eine Chance für die EU, in der Region von einem payer zu einem player zu werden.

Zwischen dem Gaza-Streifen und dem Westjordanland wird nun die seit Jahren ersehnte Verbindung hergestellt. Mittels täglich verkehrender, bewachter Buskonvois durch Israel werden sich palästinensische Familien endlich wieder besuchen können. Auch ist geplant, die Ein- und Ausfuhr von Gütern zu beschleunigen, eine wesentliche Voraussetzung, um durch den Export von Agrarprodukten eine wirtschaftliche Stabilisierung in Gaza herbeizuführen.

Die Wiederinbetriebnahme des von Israel teilweise zerstörten Flughafens, die in wenigen Monaten zu bewerkstelligen wäre, lehnte die israelische Regierung aus Sicherheitsgründen zunächst ab. Dagegen wurde von Israel der Bau eines Hafens in Gaza zugestanden, der allerdings Jahre benötigen wird. Welche Fallstricke in den Vereinbarungen stecken, machte der israelische Verteidigungsminister Mofas deutlich, als er Kritikern des Abkommens entgegenhielt, man habe nur den Bau des Hafens genehmigt, nicht jedoch dessen Betrieb. Einen Rückfall in die Zeiten des Oslo-Prozesses, in dem in Endlosschleifen immer wieder über bereits Verhandeltes erneut verhandelt wurde, halten nicht nur Pessimisten für möglich.

Das erzielte Abkommen ist zwar ziemlich dürftig, dennoch wares unerlässlich

Immerhin wurde in den letzten Wochen verhandelt, wenn auch eine Regelung nur durch äußeren Druck zustande kam. Ministerpräsident Scharon ist an die Grenzen seines Unilateralismus gestoßen. Präsident Mahmud Abbas wird die Einigung als ersten Verhandlungserfolg verbuchen können und hoffen, dass dieser ihm und seiner Fatah-Bewegung Rückenwind für die im Januar vorgesehenen Parlamentswahlen verschafft. Doch die PalästinenserInnen erwarten, dass er auch der sich ausbreitenden Anarchie und Gesetzlosigkeit im Gaza-Streifen ein Ende bereitet und sich damit die Lebensverhältnisse verbessern. Dass der Gaza-Streifen, wie Condoleezza Rice im Überschwang der erzielten Einigung prophezeite, nun ein „besserer Ort“ zum Leben wird, gar „ein Platz, an dem die Demokratie Fuß fassen kann“, hängt auch davon ab, ob die palästinensische Autonomieverwaltung ihre ordnungspolitischen Hausaufgaben erledigt. Sie muss nun ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen, im Gaza-Streifen für Recht und Ordnung und insbesondere auch für demokratische Parlamentswahlen im Januar sorgen. Das wird unter den Bedingungen der Besatzung schwierig sein, doch ein solcher innenpolitischer Neuanfang könnte auch dem friedenspolitischen Prozess neue Impulse verleihen, weil er der palästinensischen Führung die politische Legitimität verschafft, die nötig ist, um sich innenpolitisch gegen die militanten Gruppen durchzusetzen.

Markiert das Abkommen nun den friedenspolitischen „Neuanfang“ im Nahen Osten, der nach dem Amtsantritt des Mahmud Abbas und dem israelischen Rückzug allseits beschworen wurde? Wohl kaum, denn die Einsicht, dass sich „die Sicherheitslage Israels nur verbessert, wenn auch Hoffnung für die Palästinenser besteht“ (Wolfensohn), hat sich in der israelischen Regierung noch nicht durchgesetzt. Der unmittelbar bevorstehende Wahlkampf in Israel wird erst einmal wieder für friedenspolitische Stagnation sorgen. CHRISTIAN STERZING