: Im Schatten der Väter
Die Kinder der Tätergeneration stecken in der Falle: Sie zelebrieren einen hoch ritualisierten und gegen Selbstreflexion abgeschirmten Philosemitismus und treten zur gleichen Zeit in ein infantiles Konkurrenzverhältnis zu den Opfern der Nazi-Verbrechen
VON CHRISTIAN SCHNEIDER
Fahrradfahren ist eine prima Sache. Man belastet die Umwelt nicht und tut etwas für seine Gesundheit. Fahrradfahren ist jedermann zu empfehlen. Was das mit Antisemitismus zu tun hat? Viel. Jedenfalls in Deutschland. Stellen Sie sich einfach jemanden vor, der, sich an die gute Empfehlung haltend, fleißig radelt. Und dabei klingelt, mit den Armen wedelt, auf sich deutet und ruft: „Schaut her: Ich fahre Fahrrad! Alle mal hersehen, ich fahre Fahrrad!! Ich tue Wertvolles; ich bin ein GUTER MENSCH!!!“
Blödsinn, sagen Sie? Wohl wahr, indes: Ganz ähnlich verhält sich eine numerisch nicht unbedeutende Gruppe Deutscher – nicht zuletzt aus meiner Generation, der der Achtundsechziger –, genau so. Für sie bedeutet die Tatsache, dass sie nicht nur keine Antisemiten, sondern erklärte Antiantisemiten und, in vielen Fällen, Philosemiten sind, so etwas wie einen unsichtbaren Verdienstorden. Die Idealisierung alles Jüdischen verschafft ihnen die Sicherheit, auf der richtigen Seite zu stehen, sowie das Gefühl der moralischen Intaktheit. Sie radeln sozusagen unter ihrem eigenen Beifall strikt aus der dunklen Vergangenheit in eine goldene Zukunft.
Dass er sich hierzulande, nach dem beinahe erfolgreichen Versuch unserer Väter, die Juden Europas auszurotten, anders ausnimmt als zu anderen Zeiten an anderen Orten, kann nicht verwundern. Was über den Philosemitismus als Verhaltenssyndrom geschrieben worden ist, lässt sich knapp zusammenfassen: Analytisch herrscht Einigkeit darüber, dass er derselben psychischen Dynamik und Struktur folgt wie der Antisemitismus, lediglich die Vorzeichen sind verkehrt. Was der Antisemit verdammt, hebt der Philosemit in den Himmel. „Philosemitismus“, sagte eine Wiener Bekannte angelegentlich – und schlug damit die mir bekannten wissenschaftlichen Definitionen um Längen – „ist ein gezuckerter Antisemitismus.“
Seltsam nur, dass die abgründige Dimension dieser Erkenntnis meist unbeachtet bleibt oder, dies zweifellos eine deutsche Spezialität, zu grotesken dialektischen Höhenflügen führt. Der Historiker Alexander von Plato erzählte mir einmal von der verblüffenden Erfahrung, bei den von ihm befragten Zeitzeugen der Nazizeit immer wieder auf folgende Argumentationsfigur gestoßen zu sein: Auf die obligatorische Frage nach dem NS-Lagersystem und dem Verschwinden der jüdischen Mitbürger teilte man ihm mit, nichts, aber auch gar nichts von Deportationen und KZs gewusst zu haben. Um im Nachsatz auszuführen: „Und wenn, dann hätte man ja nicht darüber reden dürfen, denn sonst wäre man sofort ins KZ gekommen.“
Diese seltsame „Von hinten durch die Brust ins Auge“-Logik findet in unserer Thematik ein bemerkenswertes Pendant. Wie oft haben mir praktizierende Philosemiten das Wesen des Philosemitismus erklärt, mir, strahlend vor Einsicht, die Strukturgleichheit von Philo- und Antisemitismus vorgerechnet? Ich erinnere mich bestens an das letzte Gespräch mit meinem Freund Rolf – seines Zeichens Achtundsechziger, Berufspädagoge und stolzer Vater von Lea und Daniel, eine Menora im Fenster, Klezmer-Musik im CD-Ständer und eine Sammlung jüdischer Kochbücher im Küchenregal. Seinen extemporierten Exkurs zum Philosemitismus schloss er, mit blitzenden Augen, so: „Vergessen wir nicht: Das ist gefährlich, sehr gefährlich!“ Zitternd vor Kühnheit wagte ich die Nachfrage, welche Bedeutung dieses Wissen für sein eigenes Leben habe – und traf auf schiere Fassungslosigkeit.
Dieser elementare Ausfall von Selbstreflexion ist kein exklusives Problem der Achtundsechziger. Aber in keiner Generation hat er so penetrante Folgen. Eine jüdische Freundin sagte mir neulich, sie fühle sich nachgerade erschöpft, in unseren, d. h. den vom Achtundsechzigergeist durchdrungenen Kreisen zu leben und – um ihrer Herkunft willen – so demonstrativ geliebt zu werden. Vielleicht lag es an ihrem Erschöpfungszustand, aber ihre Worte sind zitierenswert: „Ich hasse diese Zwangsliebe. Ich finde, wir Juden haben ein Recht auf Antisemitismus. Warum sollen manche Leute Juden eigentlich nicht nicht mögen dürfen?“ Natürlich widersprach ich ihr heftig, unter Aufbietung aller geläufigen Argumente. Sie gewann die Runde schließlich mit dem Satz: „Es geht doch nur darum, dass wir dieselben Rechte haben wollen – und keine Vorrechte.“
Das Anrecht auf Normalität – exakt dies ist es, was Philosemiten nicht anerkennen können. Dazu sind sie in ihrer Selbstwahrnehmung, die sich im Objekt ihrer fatalen Liebe spiegelt, viel zu sehr auf die Ausnahme, das Nichtprofane, das Heilige fixiert. Wenn sie „Auschwitz“ sagen, ist die religiöse Aura fühlbar, die sie umflutet und selbst erhöht. Die im Namen „Auschwitz“ metaphorisierte Vernichtung der europäischen Juden ist als „negativer Gründungsmythos“ der Bundesrepublik bezeichnet worden und wurde das Menetekel für Rituale des Gedenkens und der moralischen Inszenierung, auf denen heute ein guter Teil der Reputation des NS-Nachfolgestaats gründet. Es war die Generation der Kriegs- und Nachkriegskinder, eben die der so viel gescholtenen Achtundsechziger, die den Grundstein des aktuellen Umgangs mit jüdischem Leben und Sterben gelegt hat. Ihr lebensgeschichtliches Pathos bestand ursprünglich darin, stellvertretend die von den Eltern von sich gewiesene Schuld und die mit ihr verknüpften Emotionen zu übernehmen. Zu ihrem Grundgefühl zählt eine tief sitzende Scham über diese Eltern und der Wunsch, sich vom schuldbeladenen Ursprung abzukoppeln: Gerade ihre politisch bewussten Angehörigen identifizierten sich mit den Opfern der Väter, insbesondere mit den Juden.
In die 1968 lautstark erhobene Anklage gegen die Eltern mischte sich der Wunsch nach Wiedergutmachung und Ungeschehenmachen – wie etwa an der Namensgebung von Rolfs Kindern abzulesen ist. Überraschend viele Kinder der Achtundsechziger tragen alttestamentarische Namen: die der Opfer. Der psychosoziale Kern dieser politischen Generation besteht in einer hysterischen Identifikation mit den Ermordeten und dem damit verknüpften Anspruch, in ihrem Namen anklagend das Wort zu ergreifen. Achtundsechzig war ein Aufstand gegen die eigene Herkunft.
Für die Entwicklung der politischen Kultur der Bundesrepublik war diese (Gegen-)Identifizierung eine sozialpsychologisch notwendige Passage. Für die sie tragende Generation und ihre Nachkommen impliziert sie noch wenig begriffene Folgen.
Der demonstrativ gelebte, hoch ritualisierte und gegen Selbstreflexion abgeschirmte Philosemitismus ist nur das offenkundigste Beispiel. Die persönliche Aufladung der historischen Erbschaft zum Gestus der Dauerbetroffenheit und das Schwelgen in der „erborgten“ Schuld gehören ebenso zum festen Repertoire dieser Generation wie der aus der Opferidentifikation hergeleitete Anspruch einer unangreifbaren moralischen Überlegenheit. Um es in einem Diskurs, in dem aus Gründen viel mit übervorsichtigen und verdeckenden Formeln operiert wird, möglichst krass auszudrücken: Die Kinder der so genannten Tätergeneration werden sich aus der Falle des Philosemitismus nicht befreien können, solange sie nicht den von der schrecklichen Geschichte entstellten ödipalen Kern ihres Leidens verstehen; solange sie nicht verstehen, dass sie unter der Hand mit ihren jüdischen Peers eine grausam-infantile Konkurrenz austragen. Die oft zitierte „Opferkonkurrenz“ in der zweiten Generation ist in einen Verdrängungswettbewerb um das Monopol an geschichtlichem Leiden ausgeartet. Was zählt, wenn es nicht mehr um erlittenes, sondern ererbtes Leid geht, mehr: die Qualen derer, die den Gedemütigten und Ermordeten nachfolgen, oder die Last jener, die sich mit der Schuld und dem Zynismus der Täter auseinander setzen?
In der zweiten Generation brechen sich naturgemäß die Linien der persönlichen und der historischen Nachfolge. Was also sollten die Nachfahren einer Generation, auf deren Rechnung der größte organisierte Massenmord der Geschichte geht, anderes sein als Wechselbälger von unbewussten Identifikationen und Gegenidentifikationen? Wo konnte der offenkundige Antisemitismus der Vorfahren denn unterkommen, wenn nicht in seiner abstrakten, aber dennoch fest ins eigene Leben eingeschriebenen Negation? Das Festhalten an einmal gewählten Identitätspositionen scheint mehr als für jede andere Generation das Lebensschicksal der Achtundsechziger zu sein. Die Generation, die aufwuchs im Schatten der Angst, die Geschichte könnte sich wiederholen, und sich infolgedessen die Aufgabe zugemutet hat, der Gegenwart ein apotropäisches „Nie wieder“ entgegenzuschleudern, sollte spätestens mit Joschka Fischers Begründung für den Kriegseintritt in Jugoslawien die Ambivalenz solcher Parolen verstanden haben. Um Fischers Formel noch einmal zu wiederholen: „Ich habe nicht nur gelernt ‚Nie wieder Krieg‘, sondern auch ‚Nie wieder Auschwitz‘.“
Das war durchaus kein Lapsus, sondern die Quintessenz seiner Generationserfahrung. Im Unterschied zur verzweifelten negatorischen Attitüde von Achtundsechzig war die Wendung nun mit Macht unterfüttert. Und konnte daher auch in neuer Weise das Lebensmotto fundieren, das Fischer anderenorts präsentierte: „Nie mehr Opfer sein.“ Es ist der heimliche Subtext der alten Achtundsechziger-Identifizierung mit den Opfern der Eltern. Er erklärt besser als tausend Abhandlungen die a prima vista unerklärlichen, scheinbar einander widersprechenden Identifizierungen, die damals politische Gestalt annahmen.
Im Unbewussten ist es kein Widerspruch, sich mit den überlebenden und ermordeten jüdischen Intellektuellen und zugleich mit den Steine werfenden palästinensischen Kindern eins zu fühlen – mit denen sich auch ein kleinbürgerlich-anarchistischer Freidemokrat wie Möllemann – auch er von 68 geprägt – identifizieren konnte. Achtundsechzig hat die Abgründe jener unbewussten Identifizierungen, die unser (psycho)historisches Erbe sind, auf den Spielplan der jungen Republik gebracht. In der heute Vertreter der damaligen Protestgeneration den Ton angeben.
Seit einiger Zeit erleben wir neue Versuche der Selbstthematisierung: Wenn dieselben, die sich eben noch als „Achtundsechziger“ kämpferisch zu ewigen Widerständlern stilisierten, mit zunehmendem Alter sich nun als „Kriegskinder“ neu thematisieren, dann ist das nicht weniger als ein Paradigmenwechsel: Eine neue, reale Opferperspektive tritt an die Stelle der identifikatorisch usurpierten.
Anlass für neues Nachdenken. Die schwierige Aufgabe besteht darin, die vermeintlichen Klarheiten zu unterlaufen: Differenzierungen müssen gerade da eingeführt werden, wo der politische Reflex die Eindeutigkeit der Schwarz-Weiß-Zeichnung möchte. Wie immer sonst man Antisemitismus verstehen mag: Er ist in erster Linie Verlust von Differenzierungsvermögen. Seine mörderischen Folgen erwachsen aus der Weigerung, Unterschiede anzuerkennen und auszuhalten.
Das gilt gleichermaßen für den erbschleicherischen Philosemiten. Er leidet an der Differenz seiner realen Herkunft und Geschichte zu jener stilisierten, die er sich um jeden Preis aneignen möchte. Einer wie Binjamin Wilkomirski, der aus diesem Wunsch einen Familienroman machte und seine beschauliche reale Herkunft gegen eine fantasierte Geburt in Auschwitz austauschte, ist nur das sichtbare Symptom eines in meiner Generation weit verbreiteten unbewussten Wunsches.
Das „um jeden Preis“ ist ernst zu nehmen: Die Abweisung des Wunsches kann zu ungeahnter Aggression führen. Der von den ambivalent bewunderten „wirklichen“ Juden nicht angenommene Philosemit ist der Raserei nahe. Dann kommt tatsächlich die Umschlagslogik des Philosemitismus, seine verschwiegene „andere Seite“ zum Tragen. Kein Wunder, denn die eigene Identitätskonstruktion samt der automatisierten moralischen Dauergratifikation zu verlieren und als Teil eines falschen Selbst zu erkennen lässt den Betreffenden nackt dastehen. In dem Zustand macht selbst Fahrradfahren keinen Spaß mehr.
CHRISTIAN SCHNEIDER, Jahrgang 1951, lebt als freier Autor in Frankfurt am Main. Sein Text ist Teil II der taz.mag-Reihe zum Thema Die Linke und der Antisemitismus