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Debatte Junge Wähler und GerechtigkeitSpannende Laborsituation

Barbara Dribbusch
Kommentar von Barbara Dribbusch

Der SPD-Absturz zeigt: Die Mittelschicht braucht neue Solidaritätsmodelle, die linke Elemente mit bürgerlichen Werten verknüpfen.

D ie Zahlen sind beeindruckend. Der Anteil der jungen Erstwähler, die in diesem Jahr noch SPD wählten, hat sich im Vergleich zur Bundestagswahl 2005 mehr als halbiert. Nur noch 18 Prozent votierten für die SPD. Der Absturz der einstigen Volkspartei zeigt: Die "Marke SPD" hat ein Imageproblem. Die alten Gerechtigkeitsmodelle sprechen viele junge Leute nicht mehr an. Das ist auch eine spannende Situation.

Es reicht nicht, jetzt nur darüber zu streiten, ob die SPD mehr nach "links" oder mehr nach "rechts" rücken sollte, um wieder Zuspruch zu finden. Die Bundestagswahl mit ihren Millionen von Unentschlossenen und Nichtwählern zeigte: Viele Leute können mit den althergebrachten Dualitäten nur noch wenig anfangen und fühlen sich heimatlos in der Parteienlandschaft.

Vor allem die Jüngeren haben Probleme mit dem herrschenden Diskurs über "Gerechtigkeit" und Verteilung. Was nur logisch ist: Die Bundesrepublik ist verschuldet wie nie zuvor. Eine hohe Staatsverschuldung verschiebt die Lasten auf die Jüngeren und untergräbt das Vertrauen in die Zukunft des Sozialstaats. Warum sollte ein junger Mensch noch an faire Umverteilungen glauben, wenn die Parteien einen früheren Rentenbeginn oder ein längeres Arbeitslosengeld I wollen, man selbst aber als Berufseinsteiger mit Billiglöhnen rechnen muss und ein Einser-Abi braucht, um in den Metropolen ganz normal Wirtschaft zu studieren?

taz

Barbara Dribbusch ist Soziologin und Redakteurin im Inlandsressort der taz. Sie interessiert sich besonders für die Wirkung von Machtverhältnissen auf Biografien, also für die Zusammenhänge von Wirtschaft, Lebenswelt und Psychologie.

Der ausgleichende Sozialstaat, ein Markenkern der SPD, bekommt durch die Vorherrschaft der Älteren bei vielen Jungen einen Geruch von moralischer Erpressung. Vielleicht legten deswegen die Freidemokraten bei den Erstwählern von 10 auf 14 Prozent zu. Was nicht bedeutet, dass viele Jüngere "nach rechts" rücken. Denn die Linke gewann bei den Erstwählern 3 Prozentpunkte hinzu und landete bei 11 Prozent. Die Grünen steigerten sich auf 16 Prozent. Die "Piraten" bekamen 9 Prozent der Erstwählerstimmen. Die politische Topografie ist komplexer geworden. Glücklicherweise.

Die kleinen, erfolgreichen Parteien verknüpfen dabei Erfahrungswelten mit Wertedebatten. Bei den Piraten versinnbildlicht schon der Parteiname den Widerstand gegen den "Überwachungsstaat". Piraten - das wollten wir alle irgendwann mal sein. Die Piraten fordern, sich frei im Web bewegen und dort frei produzieren und konsumieren zu können. Sie greifen die Lebenswelt einer jungen, internetaffinen Generation auf und versehen sie mit einem antiautoritären Gestus.

Die Grünen haben das Nobelthema Umweltschutz in ihrem Markenimage. Sie politisieren den Konsum und geben gerade den Mittelschichtsangehörigen dadurch ein Gefühl von Handlungsmacht. Die Linke mit ihrem Umverteilungsradikalismus wiederum entlastet die Benachteiligten, Hartz-IV-Empfänger etwa, von der Zuschreibung, schuld zu sein an der eigenen Situation.

Und was macht die SPD? Das ist die spannende Frage. Der "Markenkern" der SPD war und ist das Eintreten für den "sozialen Ausgleich". Doch die Maßstäbe dafür haben sich ausdifferenziert, denn die alten "Zielgruppen" der Sozialdemokraten, also Milieus der Facharbeiter, kleinen Angestellten, der AkademikerInnen im öffentlichen Dienst, verlieren an Sicherheiten. "Die Mittelschicht spaltet sich auf", sagt der Soziologe Berthold Vogel. Und damit "multiplizieren" und "individualisieren" sich auch Empfindungen von Ungerechtigkeiten, wie der französische Soziologe François Dubet in einer umfangreichen Studie beschrieb.

Es stimmt zwar, dass etwa Facharbeiter den Sozialdemokraten noch heute verübeln, mit der Einführung von Hartz IV den Schutz vor dem sozialen Absturz nach einer Entlassung abgebaut zu haben. Doch es würde nicht funktionieren, wenn die SPD jetzt einfach nur dafür votierte, alte Sozialreformen wieder nach "links" zurückzuschrauben, das Arbeitslosengeld I wieder zu verlängern oder die Rente mit 67 abzuschaffen, auch weil man nun keine Verantwortung für den Bundeshaushalt mehr trägt und deswegen wieder viel imaginäres Geld verteilen kann. Viele WählerInnen der SPD wanderten zur Union und FDP ab und nicht zur Linkspartei. Und viele FacharbeiterInnen oder Angestellte wollen gar nicht, dass etwa die Erwerbslosenunterstützung erhöht wird für die Nichtarbeitenden. Das zeigte die Gerechtigkeitsstudie von Dubet, und dies gilt auch hierzulande.

Der Absturz der SPD ist auch ein Symptom dieses Zerfaserns der Mittelschichten. Deswegen könnten neue, integrative Solidaritätsmodelle für die Sozialdemokraten aber auch eine spannende Aufgabe sein. Ein neuer "Sozialpakt", der auch junge WählerInnen aus den Mittelschichten gewänne, müsste dabei Elemente der Linken mit Werten des liberalen Bürgertums wie etwa der Selbstbestimmtheit neu verknüpfen. Die SPD könnte einerseits einen höheren Spitzensteuersatz und einen gesetzlichen Mindestlohn fordern, andererseits aber auch Beschäftigungsprogramme neu entwerfen und Vorschläge machen, Hartz IV zu entbürokratisieren. In Großbritannien etwa bekommen Niedrigverdienende, wenn sie mindestens 30 Stunden arbeiten, einen aufstockenden Steuerzuschuss ohne Vermögensanrechnung und ohne Nachfragen nach Wohnungsgröße und Autobesitz.

Die Entstigmatisierung von Hartz IV als normale Sozialleistung und nicht als Fürsorge ist übrigens der einzig positive Aspekt des "Bürgergeld"-Vorschlags der FDP. Im Einzelnen bedeutet das Konzept der Freidemokraten aber zu viele Kürzungen und ist daher abzulehnen.

Eine politische Standortbestimmung von "links" und "rechts" reicht jedenfalls für viele WählerInnen nicht mehr aus, um ihnen eine Heimat zu bieten. Darunter sind viele junge Leute, die keine Lust haben, nur in die vorgefertigten Hamsterräder der Wettbewerbsgesellschaft zu klettern. Ein neuer Sozialindividualismus, der Selbstbestimmtheit mit einem gewissen Maß an Sicherheit verbindet und mit dem moralischen Gut der Solidarität sorgsam umgeht, spräche diese Wähler an. Mit Sozialdemokraten, Grünen und Linke sitzen nun drei Parteien, die miteinander konkurrieren, in einer Opposition. Das ist eine spannende Laborsituation für neue Konzepte. Man muss aber was draus machen.

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Barbara Dribbusch
Redakteurin für Soziales
Redakteurin für Sozialpolitik und Gesellschaft im Inlandsressort der taz. Schwerpunkte: Arbeit, soziale Sicherung, Psychologie, Alter. Bücher: "Schattwald", Roman (Piper, August 2016). "Können Falten Freunde sein?" (Goldmann 2015, Taschenbuch).

1 Kommentar

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  • L
    Lou

    Es geht auch schlicht und einfach. Da muß man für die SPD nicht einmal die Frage nach links oder rechts beantworten oder in soziologische Erklärungsversuche abgleiten.

    Die SPD wurde 1998 für eine andere Politik als die, die Schröder und seine Kumpels dann nach der Wahl, spätestens seit 1999, vollzogen, gewählt. Das war (und ist) in der Geschichte der Bundesrepublik ein ungeheurer Betrug an den Menschen, die diese SPD wählten. Und diese haben dies, durchaus bemerkt und durchschaut, auch die "Jüngeren". Das ist übrigens der Grund von Lafontains Rücktritt. Ich erspare uns allen die Aufzählung dessen, was dann kam. Zusammen mit einem Wechsel des Politikansatzes kam auch eine bis heute anhaltende Realitätsblindheit. Niederlagen werden wie Siege gefeiert. Erinnern wir uns auch aktuell an den Wahlabend und an das Gejohle und Gejuble in der SPD- Zentrale (es hat mich angewidert. Sogar der bronzene Willy versuchte, sich wegzudrehen). Nach 11 Jahren wollten die Menschen, die von dieser SPD teilweise sogar in Armut (Hartz 4, Niedrigstlohn usw) gestoßen wurden, der SPD keine neue Chance auf Änderung geben. Seit 1998 hat die SPD die Hälfte der Mitglieder verloren. Sie hat fast alle Ministerpräsidenten verloren. Sie verlor, erst langsam, nun stetig, beinahe die Hälfte ihrer Wähler. 1998 ca 41 %, 2002 mit viel Glück und 5000 Stimmen mehr gegen Stoiber gewonnen. Wobei da rot/grün die eigene Politik schon so schlecht fand, dass sie selber nicht an einen Wahlsieg glaubten. 2005 34 %, gefeiert wie der Wahlsieg. Die Verluste seit 1998? Weggejubelt. Und nun die logischen 23 %. Sollte die SPD, statt einer anderen Ausrichtung ihrer Politik, weiterhin die Agenda Massenarmut und Rente mit 67 fortsetzen und von einer "Auflösung sozialer Milieus" als Erklärungsansatz schwafeln, dann prophezeie ich 2013 bundesweit das bayerische Ergebnis von 16,5%. Verdient. So eine SPD braucht niemand.