Wie die Wirtschaftskrise den Hunger antreibt: Die Armen sanieren die Reichen
In der Weltwirtschaftskrise sinken die Einnahmen der ärmsten Länder am stärksten. Deshalb steigt die Zahl der Hungernden auf der Welt schneller als je zuvor.
Die Zahl der Hungernden der Welt hat dieses Jahr nicht nur einen historischen Höchststand erreicht, sondern nimmt auch schneller zu als je zuvor. Zu diesem düsteren Schluss kommen die beiden für Ernährung zuständigen UN-Unterorganisationen FAO und WFP in ihrem gestern vorgestellten Bericht zur Ernährungssicherheit auf der Welt 2009, pünktlich zum Welternährungstag am 16. Oktober. Über eine Milliarde Menschen – genau gesagt 1.020.000.000, ein Sechstel der Weltbevölkerung – sind demzufolge chronisch unterernährt. Gegenüber 2008 ist dies ein Zuwachs um über 10 Prozent. Das hat es noch nie gegeben.
"Diese Krise ist historisch beispiellos", warnt FAO-Generalsekretär Jacques Diouf. Und sie ist, so der Bericht, ausschließlich von Menschen gemacht: "Die Zunahme liegt nicht an schlechten Ernten, sondern daran, dass hohe Lebensmittelpreise, gesunkene Einkommen und zunehmende Arbeitslosigkeit den Zugang zu Nahrung für die Ärmsten erschwert haben."
Als die globale Rohstoffspekulation 2006-2008 ihren Höhepunkt erreichte, explodierten vielerorts die Lebensmittelpreise; als 2008 die globale Wirtschafts- und Finanzkrise einsetzte, sanken die Preise zwar, aber nicht mehr auf das vorherige Niveau. Zugleich rutschten Millionen von Menschen unter die Armutsgrenze. Viele von ihnen hatten schon vorher ihre Ersparnisse aufgebraucht, ihren Besitz verkauft oder auf Schulbildung und Gesundheitsvorsorge verzichten müssen, um essen zu können. Jetzt stehen sie vor dem Nichts.
Die Globalisierung erschwert es den ärmsten Ländern, sich davor zu schützen, so die UNO. Sie verdienen weniger am Export ihrer Rohstoffe, sie bekommen weniger Auslandsinvestitionen, die Entwicklungshilfe geht zurück und Überweisungen von Migranten im Ausland bleiben aus. Wenn diese Länder dann noch zunehmend auf Lebensmittelimporte angewiesen sind, die sie immer weniger bezahlen können, wird Nahrung knapp und für die Bevölkerungsmehrheit unbezahlbar.
Die Förderung einheimischer Landwirtschaft wurde in den meisten Entwicklungsländern in den letzten Jahrzehnten sträflich vernachlässigt. Als Ergebnis ist der Getreideimportbedarf von 70 ausgewählten Entwicklungsländern seit 1990 von 45 auf 110 Millionen Tonnen gestiegen. Wie sollen diese Länder diese Rekordeinfuhren bezahlen, bei Rekordrückgängen von Exporteinnahmen in der Höhe von 40 Prozent in Asien, 50 Prozent dieses Jahr in Afrika, 60 Prozent in Lateinamerika?
In Bangladesch leiden ein Viertel der 150 Millionen Einwohner Hunger. Die Haupteinkommensquellen des Landes - Textilausfuhren in die USA und EU und Einnahmen von Migranten im Nahen Osten und Südostasien - sind 2008 dramatisch eingebrochen, während der Reispreis gegenüber 2007 um ein Drittel gestiegen ist. Jetzt ist ein Drittel der Bevölkerung höher verschuldet als vorher.
Dabei ist Bangladesch ein Land, das in den letzten 20 Jahren erhebliche Fortschritte im Kampf gegen den Hunger gemacht hat. Der Anteil der Hungernden lag 1990 noch bei 36 Prozent. Die Kindersterblichkeit ist seitdem von 15,1 Prozent aller Kinder unter fünf Jahren auf 6,1 Prozent gesunken, weniger als in Indien. Der gestern veröffentlichte "Welthungerindex" der Deutschen Welthungerhilfe setzt Bangladesch auf Platz 67 von 84 Ländern. Es steht heute ungefähr da, wo sich 1990 Vietnam befand.
Aber ein Aufschwung ähnlich dem Vietnams ist in Bangladesch heute unwahrscheinlich. 2007 strömten noch 1,2 Billionen Dollar an Privatinvestitionen in Entwicklungsländer, ein historischer Rekord; 2008 fiel die Summe auf 707 Milliarden, und 2009 erwartet die Weltbank nur noch 363 Milliarden. Zugleich wird von dem Geld, das Entwicklungsländer verdienen, immer mehr dazu gebraucht, um die Löcher in den Finanzsystemen der Industrienationen zu stopfen. Laut IWF floss 1997 erstmals seit Jahrzehnten mehr Geld aus armen in reiche Länder als umgekehrt. Damals waren es vier Milliarden Dollar. 2008 erreichte die Summe 933 Milliarden, vor allem Exporteinnahmen von China und Ölstaaten, die in westliche Banken und Haushalte fließen.
Wenn diese Gelder wieder als Investitionen zurückfließen, ist das kein Problem. Aber jetzt werden damit Haushaltsdefizite der Industrieländer gedeckt und Bankbilanzen ausgeglichen. Die Reichen sanieren sich auf Kosten der Armen.
"Diese Krise ist nicht neu", so die UNO. "Sie ist die plötzliche Verschlechterung einer Strukturkrise, die seit Jahrzehnten hunderten von Millionen Menschen den Zugang zu ausreichender Nahrung verwehrt."
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