Leben ohne Kreditkarte

AUF DER DURCHREISE In kühler Schönheit porträtiert Kelly Reichardt in „Wendy and Lucy“ ihre Heldin, die gemeinsam mit ihrer Hündin die USA auf der Suche nach einem Job durchquert

Die Budgets sind klein, die Geschichten dem Alltag entnommen, die Plots unaufwendig

VON CRISTINA NORD

Wendy sammelt Getränkedosen auf einer Brache. Die Kamera schaut ihr dabei aus einiger Entfernung zu. Die junge Frau trägt Shorts und ein Kapuzenshirt, einmal schneidet sie sich am Metall und wischt sich die Hand an der Hose ab. Ihre Hündin Lucy, ein Retriever-Mischling, tollt um sie herum. Wendy findet gerade mal genug Dosen, um eine kleine Plastiktüte zu füllen. Vor dem Tor der Pfandannahmestelle reiht sie sich in eine Schlange ein, Männer warten dort, einige haben Einkaufswagen voller Leergut dabei, einer sitzt im Rollstuhl und bietet Wendy an, statt ihrer zu warten und ihr das Geld später zu geben. Sie schenkt ihm ihre Tüte mit den Dosen.

Wendy (Michelle Williams) ist die Hauptfigur in Kelly Reichardts neuem Film „Wendy and Lucy“. Reichardt ist eine US-amerikanische Regisseurin, die nach „River of Grass“ (1994) und „Old Joy“ (2006) nun ihren dritten langen Spielfilm vorstellt; den vierten, „Meek's Cutoff“, dreht sie gerade in der Nähe der Kleinstadt Burns, Oregon. „Wendy and Lucy“ ist das einfühlsame Porträt einer jungen Frau auf der Durchreise. Wendy will nach Alaska, um in der Fischverarbeitung einen Job zu bekommen. Sie schläft in ihrem Auto, einem alten Honda Accord, führt akribisch Buch über ihre Finanzen, etwas mehr als 500 Dollar hat sie am Anfang des Films beisammen. Jedes Mal, bevor sie Geld ausgibt, lässt sich an ihrem Gesicht ablesen, wie sie die Zahlen überschlägt. Mit Textmarker trägt sie die Route auf der Landkarte ein, in einem Notizbuch vermerkt sie Abfahrtszeiten von Fähren und den Namen des Betriebs, der am Ziel ihrer Reise liegen könnte: Northern Fisheries. In Portland, Oregon, kommt ihre Fahrt zu einem vorläufigen Ende. Weil sie beim Ladendiebstahl erwischt wird, verbringt sie einen Nachmittag auf dem Polizeirevier. Den Hund hat sie vor dem Supermarkt zurücklassen müssen, als sie zurückkehrt, ist Lucy verschwunden. Am nächsten Morgen springt das Auto nicht mehr an. Wendy sitzt fest.

Aus dieser einfachen Grundkonstellation macht Reichardt sehr viel. In ruhigen Totalen und langsamen Kamerafahrten erfasst sie, wie die Welt rund um Wendy aussieht. Eine vorstädtische Welt aus holzverkleideten Wohnhäusern, Supermarktparkplätzen und -hintereingängen, Gleisanlagen, Güterbahnhöfen und vom Wald überwachsenen Industrieanlagen. Wem begegnet Wendy in dieser Welt? Einem freundlich-sachlichen Polizisten, der kurz aus der Fassung gerät, als die Maschine, die die Fingerabdrücke prozessiert, nicht so arbeitet, wie sie soll. Einer anderen Polizistin, die 50 Dollar Strafgebühr von Wendy verlangt, bevor sie das Revier verlassen darf. „Sie können auch mit Kreditkarte zahlen“, sagt die Polizistin. „Ich habe keine Kreditkarte“, antwortet Wendy. Der Supermarktangestellte, der sie beim Klauen erwischt, belehrt sie: „Wer sich kein Hundefutter leisten kann, der soll sich keinen Hund anschaffen.“ Er ist vielleicht 18, 19, in jedem Fall jünger als Wendy. Ein Wachschutzmann bedeutet ihr freundlich, sie könne auf dem Parkplatz, den er bewacht, nicht schlafen, und sie möge mit ihrem Auto anderswohin fahren. Dieser Mann, ein alter Herr (Wally Dalton), wird im Lauf des Films zu Wendys Verbündetem, er hilft ihr, indem er ihr den Weg zum Tierheim erklärt oder ihr sein Mobiltelefon leiht. „Niemand benutzt heute noch Telefonzellen“, sagt er. Wendy sieht man oft in Telefonzellen. Ob es Jobs in der Stadt gebe, fragt sie ihn, aber er schüttelt den Kopf. Höchstens Wachschutzleute würden nachgefragt.

Reichardt schaut Wendys Routinen geduldig zu – wie sie sich im Toilettenraum einer Tankstelle wäscht und umzieht. Wie sie ihr Auto ausräumt, bevor sie es der Werkstatt überlässt, wie sie sich ein Nachtlager zwischen Sträuchern einrichtet. Wie sie, am Anfang des Films, auf eine Gruppe von Freaks an einem Lagerfeuer stößt und aus ihrem unbewegten Gesicht deutlich wird: Mit dieser Form späthippiesker Tribal-Romantik kann sie nichts anfangen. Zur Ruhe kommt Wendy selten. Wenn sie mit ihrer Schwester telefoniert, rauscht jenseits der Telefonzelle laut der Verkehr vorbei. Wenn sie sich auf die Toilette der Tankstelle zurückzieht, klopft es draußen schon an die Tür. Reichardt filmt, als treibe sie eine phänomenologische Neugier: Wie sieht es aus, wenn jemand das Land auf der Suche nach einem Job durchquert und dabei obdachlos wird? Wie sieht dieses Land aus, das außer prekären Dienstleistungsjobs nichts anzubieten hat? Das den pursuit of happiness in die Verfassung schreibt, ohne die Voraussetzungen für diese Glückssuche zu schaffen? Welche Räume stellt es jemandem wie Wendy zur Verfügung? Tagsüber bewegt sich die Figur noch einigermaßen behände durch Diners und braches Gelände, nachts aber findet sie, seit das Auto in der Werkstatt steht, keinen sicheren Ort.

„Wendy and Lucy“ steht in einer Reihe jüngerer US-amerikanischer Independentfilme. Die Budgets sind klein, die Geschichten dem Alltag entnommen, die Plots unaufwendig. Die Schauplätze – zum Beispiel Portland, Oregon, Austin, Texas, oder Winston-Salem, North Carolina – sind eher peripher als mondän. Die Darsteller sehen aus wie gewöhnliche Menschen, den in Hollywood gängigen Körperoptimierungen unterwerfen sie sich nicht. Es sind Filme, die in Deutschland meist mit einiger Verspätung ins Kino kommen, wie kürzlich „Shotgun Stories“ von Jeff Nichols (siehe taz vom 8. 10.) oder, vor einem Jahr, Reichardts „Old Joy“. Viele freilich finden keinen regulären deutschen Starttermin – etwa David Gordon Greens Filme „George Washington“ (2000) oder „Undertow“ (2004), Lance Hammers „Ballast“ (2008), Andrew Bujalskis „Funny Ha Ha“ (2002), „Mutual Appreciation“ (2005) und „Beeswax“ (2009) oder Joshua Safdies „The Pleasure of Being Robbed“ (2008). Via UK-Import ist einiges davon als DVD zu beziehen, über Online-Filmbörsen wie theauteurs.com herunterzuladen.

„Wendy and Lucy“ steht in einer Reihe jüngerer US-amerikanischer Independentfilme

Ältere, arrivierte Vertreter des unabhängigen US-Kinos halten ihre schützende Hand über die jungen Kollegen. Todd Haynes etwa ist ausführender Produzent von „Wendy and Lucy“, Terrence Malick hat Greens „Undertow“ (2004) produziert, Abel Ferrara gab unlängst in „Go Get Some Rosemary“ von Ben und Joshua Safdie einen Taschendieb. Ausdifferenzierungen und Unterströmungen sind genauso auszumachen wie erste Stufen der Kommerzialisierung – was nichts Böses heißen muss. Green etwa ist in die Entourage des umtriebigen Komödienregisseurs, -autors und -produzenten Judd Apatow vorgedrungen, mit Apatow als Produzenten hat er „Ananas Express“ (2008), eine Kifferkomödie, gedreht. Für die übrigen Filme beruft er sich wie Nichols auf den Begriff des „Southern Gothic“, den er im Interview mit der Zeitschrift Cargo kürzlich so erklärte: „Southern Gothic ist eine Mischung aus Naturmystik, religiöser Folklore, archaischer Mythologie. Was von einer alttestamentarischen Sklavenhaltergesellschaft so bleibt. Faulkner spielt da intensiv hinein, aber auch ein Film wie ‚Blue Velvet‘ hat viel von dieser räudigen Seite des Südens.“

Mit Bujalski wiederum wird der Begriff „Mumblecore“ assoziiert, auch wenn der 1977 in Boston geborene Regisseur selbst das Wort nicht mehr hören mag, weil es, wie alle Begriffe, eine real existierende Vielfalt zu einer imaginären Einheit reduziere (die Klage kennt man von jüngeren deutschen Regisseuren, die sich gegen den Begriff der „Berliner Schule“ wehren). Bujalski dreht seine improvisierten Alltagskomödien im Freundes- und Bekanntenkreis und fast ohne Budget. Die Figuren sind dementsprechend Twenty- oder Thirtysomethings zwischen Wohngemeinschaft, Uniabschluss, Brotjob und Bindungsschwierigkeiten. Die Offenheit ihrer Lebensentwürfe führt indes nicht zu Beliebigkeit oder Blindheit für soziale Gegebenheiten. Eher ist das Gegenteil der Fall: Erst weil sich das spezifische studentische und poststudentische Milieu bei Bujalski wie von selbst herausarbeitet, wird es interessant.

Auch bei Reichardt ist bemerkenswert, wie genau sie das Soziale in Szene setzt und wie subtil sie die prekären Verhältnisse, in denen ihre Hauptfigur nolens volens lebt, schildert. Noch bemerkenswerter ist, dass der Film diesen Verhältnissen immer wieder eine flüchtige Schönheit abtrotzt – nicht im Sinne billigen Trosts, sondern als eine Ambivalenz, die es auszuhalten gilt. Wenn Wendy mit ihrer Hündin im Licht der Abendsonne durch ein Waldstück streift, merkt man, dass die Tristesse Grenzen hat, und schaut den eigenen Alltag mit neuen Augen an.

■ „Wendy and Lucy“. Regie: Kelly Reichardt. Mit Michelle Williams, Wally Dalton, USA 2008, 80 Min.