Aus Le Monde diplomatique: Hungernde Bauern

Der bevorstehende Welternährungsgipfel in Rom müsste die Weichen für eine andere Weltagrarpolitik stellen. Eine Analyse zu den Ursachen der Ernährungskrise.

Jacques Diouf steht seit 1993 an der Spitze der Welternährungsorganisation FAO Bild: ap

Hunger ist kein unvermeidliches Übel", erklärt Olivier De Schutter, UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung.1 Hunger ist vielmehr die Folge politischer Fehlentscheidungen. Nach Angaben der Welternährungsorganisation FAO leiden 2009 eine Milliarde Menschen an Unterernährung2 und zwei Milliarden an Mangelernährung. Neun Millionen sterben jedes Jahr an den Folgen von Hunger.3

Die Nahrungsmittelkrise wäre vermeidbar, wenn grundsätzlich andere politische Wege eingeschlagen würden. An wirksamen, technisch realisierbaren Alternativen und anderen Entwicklungsmodellen fehlt es nicht. Zunächst muss man jedoch die Ursachen der Krise benennen, die sich in jüngster Zeit verschärft hat.

Wegen der Preisexplosion auf dem Agrarmarkt in den Jahren 2007 und 2008 sind im Lauf von einem Jahr zusätzlich hundert Millionen Menschen von Hunger betroffen, wobei sich die Preisentwicklung von Land zu Land unterschiedlich auf den jeweiligen Binnenmarkt auswirkte.(4) Der historische Tiefstand an Lebensmittelvorräten spielte dabei eine wichtige Rolle. Nach Ansicht des Agraringenieurs Marcel Mazoyer sind die geringen Vorräte auf den Preisverfall der vorangegangenen 25 Jahre zurückzuführen. "Dieser Zyklus wiederholt sich seit 200 Jahren alle 25, 30 Jahre. Zwischen 1975 und den Jahren 2005 und 2006 waren die Preise für Agrarrohstoffe auf dem Weltmarkt etwa auf ein Sechstel gesunken. Die Vorräte schmolzen weg, allein beim Getreide auf unter 16 Prozent der weltweiten Produktion und des Verbrauchs. Bei einem solchem Niveau genügt eine Kleinigkeit, damit die Preise explodieren."

Der Auslöser, der den Engpass dramatisch werden ließ, ist leicht zu benennen: die rasant wachsende Nachfrage nach Biotreibstoffen in den USA (2004 und 2005) und Europa. Dieser zusätzliche Druck auf die geringen Reserven ließ die Weltmarktpreise vieler Grundstoffe nach oben schnellen. Auch die Preise für Mais und Ölpflanzen (Palmen, Soja, Raps), die zur Produktion von Äthanol oder Biodiesel gebraucht werden, verteuerten sich. Auf den Terminmärkten von Chicago, New York, Kansas City und Minneapolis trieben spekulative Fonds(5) die Kurse und damit auch die Preise weiter in die Höhe. Hinzu kam die Verteuerung des Erdöls, die wiederum die Preise für chemische Grundstoffe, Transport und Energie steigen ließ.

Die wachsende Zahl neuer Opfer des Hungers lässt sich jedoch nicht allein durch diese Faktoren erklären. Da ist vor allem die extreme Armut, die den Alltag der Betroffenen kennzeichnet. 80 Prozent der Hungernden sind Bauern aus Entwicklungsländern: 50 Prozent Kleinbauern, 10 Prozent Tierzüchter und 20 Prozent Bauern ohne eigenes Land.(6) Unter den 20 Prozent der Hungernden, die in Städten leben, stammen viele vom Land und sind in der Hoffnung auf ein besseres Leben in die Stadt gezogen. Deshalb stellt sich die Frage: Warum leben so viele Bauern aus Entwicklungsländern in Armut?

Dieser Artikel ist aus der aktuellen Ausgabe von Le Monde diplomatique Bild: lmd

Die Antwort ist ebenso traurig wie einfach: In den nationalen, regionalen und internationalen Institutionen, die für Agrar-, Wirtschafts- und sonstige Politik zuständig sind, werden die Entscheidungen meist ohne Rücksicht auf die Bauern getroffen. Davon zeugen die von der Welthandelsorganisation (WTO) empfohlenen Maßnahmen, die Strukturanpassungspolitik von Weltbank und Internationalem Währungsfonds (IWF), viele Freihandelsabkommen und die Exportpolitik von Ländern oder Regionen wie den USA, der EU oder Brasilien. Diese Maßnahmen umfassen die Öffnung der Grenzen für den Warenverkehr, den Verzicht auf die Anpassung des Angebots an die Nachfrage, die Zerschlagung der bestehenden Methoden, aus Überschüssen Vorräte anzulegen und die Verteilung zu organisieren.

Dies alles läuft den legitimen Interessen der Bauern zuwider. Die zunehmende Anpassung der Binnenpreise an die Weltmarktpreise beschert ihnen schwankende und unsichere Einkünfte. Die kleinen bäuerlichen Produzenten werden der knallharten Konkurrenz riesiger Unternehmen ausgesetzt. Das verhindert einen nachhaltigen Handel von Landwirtschaftsprodukten. Besonders stark wirkt sich ein plötzlicher Anstieg der Importe aus.

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Ein solcher Importschub geht für das jeweilige Land mit einem außergewöhnlichen Wachstum der Mengen des betreffenden Produkts einher, während die Preise gleichzeitig stark fallen. Die Importe setzen die lokalen Nahrungsmittelerzeuger unter enormen Konkurrenzdruck, sie lassen sowohl die Binnenpreise als auch die Gewinne in der Landwirtschaft einbrechen. Dadurch verarmen die Bauern. Die traditionellen Lebensformen der Kleinbauern werden zerstört, und es kommt zu einer hohen ländlichen Arbeitslosigkeit.

Zwischen 1984 und 2000 wurden in 17 Entwicklungsländern 767 Importschübe registriert. Sie führen stets zum Niedergang der Produktion in den betroffenen Ländern und erhöhen den dortigen Nahrungsmittelmangel. Daraus folgt wiederum eine stärkere Abhängigkeit von Importen und von der Entwicklung der Kurse an den internationalen Rohstoffbörsen.(7) Man kann sich vorstellen, wie katastrophal sich die jüngste Preisexplosion in den Ländern ausgewirkt hat, die Nettoimporteure von Nahrungsmitteln sind.

Zur ländlichen Armut trägt auch das Ungleichgewicht der Kräfte in der Nahrungsmittelproduktionskette bei. Inwieweit einzelne Akteure bei den Verhandlungen über die Bedingungen des Warenverkehrs ihre Anliegen geltend machen können, ist abhängig vom Konzentrationsgrad eines Wirtschaftssektors. Die landwirtschaftliche Produktion ist viel weniger konzentriert als andere. Schätzungen zufolge sind weltweit derzeit 2,6 Milliarden Menschen von ländlicher Armut betroffen, 450 Millionen sind in der Landwirtschaft beschäftigt. Auf der anderen Seite kontrollieren zehn Großunternehmen die Hälfte des Saatgutangebots, drei oder vier Konzerne bestreiten zusammen mehr als die Hälfte des weltweiten Handels mit Agrarprodukten. Der Vertrieb liegt in den Händen von vier oder fünf Lebensmittelketten, die den Markt in den Industrieländern untereinander aufteilen. Auch in den Entwicklungsländern wächst ihre Macht.

Die Bauern geraten von allen Seiten unter Druck und müssen sich den Forderungen der Stärkeren beugen. Damit können die Großhändler ihre Erzeugnisse zu niedrigen Preisen einkaufen und den Bauern Preise diktieren, die unter ihren Produktionskosten liegen, wodurch wiederum die ohnehin niedrigen Löhne der Landarbeiter in großen Agrarbetrieben weiter nach unten gedrückt werden.

Es gibt viele Gründe für die Verarmung der Landbevölkerung: fehlender Zugang zu Ackerland, ungleiche Aufteilung des Produktivitätszuwachses infolge der Grünen Revolution(8) sowie der Rückgang der staatlichen Entwicklungshilfe. Sie alle haben eine gemeinsame Voraussetzung: Die Nachhaltigkeit der bäuerlichen Agrarproduktion steht nirgendwo auf der politischen Agenda.

Um dem Hunger ein Ende zu machen, müsste mit großer Entschiedenheit umgesteuert werden - hin zu einer Entwicklung, die Ernährungssouveränität garantiert (siehe nebenstehenden Artikel). Dieser Ansatz setzt stabile und faire Preise für alle Bauern der Welt voraus. Dafür bräuchte man eine wirksame nationale, regionale und internationale Angebotssteuerung, die durch ständige Produktionsanpassungen und variable Importzölle zu erreichen wäre. Daraus ergäbe sich zwingend, dass die Bauernorganisationen mehr Einfluss bekämen und die Konzerne des Agrobusiness weniger. Weitere Investitionen sind erforderlich - aber unter angemessenen Bedingungen.

Wo die Grenzen der industriellen Landwirtschaft liegen, ist nach deren jahrzehntelanger Förderung inzwischen offensichtlich. Die neuen Ansätze der Agroökologie bieten Lösungen, mit denen die Produktivität erhöht und zugleich Natur und Umwelt geschont und insbesondere die Klimaschäden begrenzt werden können.

Im April 2008 haben fast sechzig Regierungen den Weltagrarbericht (IAASTD) unterzeichnet,(9) der ein Ergebnis der Zusammenarbeit von 400 Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen aus der ganzen Welt ist. Er plädiert für Investitionen in eine neue landwirtschaftliche Revolution nach den Konzepten der Agroökologie und fordert den gesicherten Zugang zu Ackerland, Saatgut und Trinkwasser. Angesichts der vielen Hungeropfer 2009 stellt sich die Frage nach einem Landwirtschafts- und Ernährungsmodell der Zukunft umso dringlicher.

Fußnoten:

(1) T. Nagnat, " ,La faim n'est pas une fatalité', pour Olivier De Schutter", Programme alimentaire mondiale (Welternährungsprogramm), one.wfp.org.

(2) FAO, "The State of Food Insecurity in the World", Rom 2009.

(3) "L'origine de la crise alimentaire mondiale", "Science actualités, Paris, 5. Juni 2008, www.cite-sciences.fr.

(4) Dominique Baillard, "Getreide wächst nicht an der Börse", "Le Monde diplomatique, Mai 2008.

(5) Daniel G. de La Torre Ugarte und Sophia Murphy, "The Global Food Crisis: Creating an Opportunity for Fairer and More Sustainable Food and Agriculture Systems Worldwide", Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin 2008.

(6) Paula Cusí Echaniz, "Risques alimentaires et économiques en Méditerranée", Centre International de Hautes Études Agronomiques Méditerranéennes (CIHEAM), Frankreich 2009.

(7) Die WTO erlaubt Staaten, die einen Importschub erleben, die Importsteuern vorübergehend zu erhöhen oder Importquoten festzulegen. Sie stellt dafür jedoch Bedingungen, die den Schutz de facto unmöglich oder wirkungslos machen.

(8) In den 1960er- und 1970er-Jahren hat die Grüne Revolution die Landwirtschaft der Länder des Südens, vor allem in Lateinamerika und Asien, durch die technische Rationalisierung und den Einsatz ertragreicher Getreidesorten stark verändert.

(9) An der am 15. April 2008 veröffentlichten Evaluierung waren dreißig Regierungen und dreißig NGOs beteiligt, seitens der UNO waren es die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO, das UN-Entwicklungsprogramm UNDP, das UN-Umweltprogramm Unep, die Unesco und die Weltgesundheitsorganisation WHO. Eine Zusammenfassung unter: www.agassessment.org.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

© Le Monde diplomatique, November 2009

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