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Archiv-Artikel

Mathematische Operationen

AUSSTELLUNG Viele Listen, Tabellen, ein Faible für Zahlen und Daten – und die Frage, ob das Leben berechenbar ist. Im Hamburger Bahnhof ist momentan die erste Einzelausstellung des US-Künstlers George Widener zu sehen

In seinem System verweisen die Ziffern und Buchstaben aufeinander und stellen damit Verkettungen von Bedeutungen her

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Zahlen bedeuten etwas. Für manche Menschen mehr als für andere. Für die meisten etwa hat die Ziffer 2, wie sie in einem Geburtsdatum wie 2. Mai 1957 auftauchen kann, nicht unbedingt etwas damit zu tun, dass dieses Datum in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts liegt. Für George Widener hingegen schon. In seinem System verweisen die Ziffern und Buchstaben aufeinander und stellen damit Verkettungen von Bedeutungen her. Die stellt der Amerikaner dar in ornamental und grafisch wunderschön gestalteten Listen, Tabellen und Zeichnungen.

Im Hamburger Bahnhof sind sie jetzt zu sehen, in Wideners erster musealer Einzelausstellung und als vierter Teil der Reihe „Secret Universe“. Informationen in Daten codieren, wir tun es heute alle, unentwegt. Aber fast immer mit Hilfe der elektronischen Technik, beim Benutzen von Computern. Auch George Widener ist mit der High-Tech-Welt vertraut. 1962 geboren, trat er mit 17 Jahren in die US-Armee ein und arbeitete als Kameratechniker in der Luftaufklärung. Trotzdem hat er sich für Stifte und Papier als Medien der Darstellung seiner Verschlüsselungsarbeit entschieden.

Ornamente und Arabesken

Er bearbeitet seine Papiere sogar, verleiht ihnen mit Kaffee und Tee die Patina jahrhundertealter Dokumente, franst die Ränder aus, raut und weicht die Oberflächen auf, bis sie eine besondere Griffigkeit haben. Zu horizontalen Bändern oder vertikalen Lappen aneinandergehängt erinnern seine Zeichnungen auch in den Formaten an alte Codices, Fundstücke aus indigenen oder okkulten Traditionen. Das macht für uns heute als Betrachter einen großen Teil der visuellen Attraktivität der Zeichnungen von George Widener aus: dass sie die Arbeit mit den Zahlen, die im Alltag in den Maschinen verschwindet, in so schönen Ornamenten und Arabesken zur Sichtbarkeit bringt. Er arbeitet vielfach mit grauen Flächen, die sich erst von ganz nahem als Text mit fortgeschriebenen Kalenderdaten erkennen lassen, als Untergrund. Die Unterbrechung der Schrift bringt dahin feine, helle Linien. Manchmal nimmt der Untergrund von weitem gesehen die Form einer Landkarte an, öfter aber ist er symmetrisch strukturiert.

In seiner kontinuierlichen Arbeit mit Zahlen, Daten und Kalendern weisen die Zeichnungen von Widener eine inhaltliche Verwandtschaft etwa zu den Kunstkonzepten von Hanne Darboven oder Roman Opalka auf. Auch bei Darboven stellen sich über Kalenderdaten Verknüpfungen zu anderen Informationsebenen und mathematischen Operationen her; Roman Opalka widmete Jahrzehnte seines Lebens einem fortgesetzten Schreiben von immer blasser werdenden Zahlen auf Leinwand. Verglichen mit den spielerischen Zügen von Widener wirken ihre Arbeiten strenger und karger. Vor allem aber unterscheidet sie von Widener, als ausgebildete Künstler den Plan betreten und in der Pionierphase der Konzeptkunst allmählich Anerkennung gefunden zu haben.

George Widener hingegen kam als Autodidakt zur Kunst und über den Umweg einer medizinischen Diagnose in den Kunstbetrieb. Denn erst spät, nach seiner Zeit beim Militär, nach einer Phase der Arbeits- und Obdachlosigkeit, wird beim ihm das Aspergersyndrom, eine Variante des Autismus, festgestellt und eine Zeit lang ist er vor allem medizinische Testperson. Gezeichnet hat er schon immer, aber erst der Diagnose und einer gewissen Prominenz als Patient schließt sich die Möglichkeit eines Kunststudiums für Lernbehinderte an der Universität von Tennessee an und sein vor 13 Jahren gefasster Entschluss, als Künstler zu leben.

Dem kam sicher auch das öffentliche Interesse an Autismus, Asperger und Inselbegabungen zugute, das auch viele amerikanische Spielfilme über geheimnisvolle Kinder oder die Karriere einer Figur wie Lisbeth Salander aus den Krimis von Stieg Larsson bezeugen. Das ist einerseits bedingt durch die Faszination durch ein ungewöhnliches Talent, wie etwa Wideners Fähigkeit, für jedes Datum der nächsten 80.000 Jahre den Wochentag benennen zu können oder sein Gedächtnis für historische Daten. Wissen jederzeit abrufbereit zur Verfügung zu haben, das wünscht man sich ja, das ist auch eine gesellschaftlich anerkannte Leistung. Aber gerade das können die autistisch Gestörten nicht erfahren, durch ihre Behinderung in der Kommunikation. Das macht andererseits die Empathie für die fiktiven wie realen autistischen Helden aus.

Widener, das sieht man übrigens in einem kurzen Film im Hamburger Bahnhof, ist von dieser Kommunikationsstörung nur wenig eingeschränkt in seinem selbstständigen Leben heute und kann sich gut zu seiner Kunst äußern. Er verstecke in seinen Bilder „geheime Botschaften für die Suchmaschinen der Zukunft“, wird Widener im Katalog zitiert. Tatsächlich macht es Spaß, die Suchmaschinen der Gegenwart mit den poetischen Sätzen zu füttern, die er aus der Verknüpfung der Ereignisse, die an einem 9. Mai geschehen sind, gewinnt: „Columbus Norgay eyed with suspicion the Piccadilly Lawn Moyer“ steht da aus verschiedenen Schreibmaschinenschriften zusammengesetzt und handschriftlich mit Jahreszahlen von 1502 bis 1986 ergänzt. Am 18. Mai heißt es: „The Comet that the Artist saw at the Ritz was known as Oscar“. Vom Halleyschen Kometen bis zur Oscarverleihung lässt sich da einiges finden.

Sonntags Flugzeugabstürze

Daten zu vergleichen hat Widener auch zur Katastrophenforschung gebracht, etwa in einer Auflistung all der Sonntage, an denen Flugzeuge abgestürzt sind. „Some people go to church on sunday and some get in an airplane; sometimes both of them end up praying at the exact same second because the plane is going to crash“, schreibt er wie in einem Gedicht in großen Lettern neben die Tabelle der Abstürze. Und errechnet auch eine Prognose der zukünftigen Sonntagsabstürze nach 2050.

Ist das Leben berechenbar? Um diese Frage eben kreist Wideners System. Und obwohl er begeistert ist von magischen Quadraten und komplexen mathematischen Operationen, arbeitet er sich gerade am Unberechenbaren ab, an den Katastrophen wie dem Untergang der „Titanic“. In Zeichnungen, die teils der Schiffskonstruktion gelten, teils ihre Struktur in Ornamente übersetzen, stehen lange Listen von der Ladung des Schiffs, der technischen Ausstattung, von der Chronologie des Unglücks – also alles in Zahlen Übersetzbare, das doch in keine Berechnung des Untergangs zu transformieren ist. Das Berechenbare und das Unberechenbare, das Entschlüsselbare und das Geheimnisvolle, sie legen sich in seinen visuellen Informationssystemen ununterscheidbar übereinander – gerade das macht ihre Spannung für den Betrachter aus.

■ George Widener: „Secret Universe IV.“, bis 16. Juni, Di.–Fr. 10–18 Uhr, Do. 10–20 Uhr, Sa./So. 11–18 Uhr, Hamburger Bahnhof, Invalidenstraße 50