: Der Präsident hat sehr viel vor
USA Bei seiner Rede zur Lage der Nation erklärt Barack Obama seine Prioritäten: Jobs, Bildung, Energiewende, Investitionen in die Infrastruktur. Das gefällt aber nicht allen
US-PRÄSIDENT BARACK OBAMA
VON BERND PICKERT
BERLIN taz | Ovationen von beiden Kammern und beiden Fraktionen des US-Kongresses für einen US-Präsidenten sind nicht alltäglich in Washington, nicht einmal bei der jährlichen Rede zur Lage der Nation. Dass Präsident Barack Obama es schaffte, ausgerechnet beim hart umstrittenen Thema neuer Waffenkontrollgesetze selbst den schräg hinter ihm sitzenden republikanischen Sprecher des Repräsentantenhauses John Boehner zum Applaus zu nötigen, war ein besonderes Highlight der Rede in der Nacht zum Mittwoch. Auf den Rängen saßen Angehörige der Opfer von Newtown, die Eltern der gerade in Chicago getöteten Hadiya Pendleton und viele andere, die bei Gewaltexzessen Angehörige verloren hatten. „Sie verdienen eine Abstimmung“, sagte Obama, und das war direkt an Boehner gerichtet. Der hat schließlich darüber zu entscheiden, ob Gesetzesvorlagen im Repräsentantenhaus überhaupt auf die Tagesordnung kommen. Egal, was Boehner dachte – wo die Opferangehörigen stehen, kann er nicht sitzen bleiben, und seine Republikaner klatschten eifrig mit. Ein erstaunlicher Moment.
Vielen anderen Passagen hingegen hatte Boehner mit versteinerter Miene gelauscht. Obama nutzte die Gelegenheit, um die Prioritäten seiner zweiten Amtszeit noch einmal vor großem Fernsehpublikum darzulegen. Neben den bereits bekannten Themen Waffengesetze und Migrationsreform beschäftigte sich Obama vor allem mit der Wirtschaft, sprach über notwendige Investitionen in Infrastruktur, Wissenschaft und Bildungssystem. „Defizitreduzierung allein ist noch kein Wirtschaftsplan“, sagte Obama an die Adresse der Republikaner. Drei Leitfragen müssten im Vordergrund stehen: „Wie werden wir attraktiv für neue Jobs? Wie statten wir unsere Leute mit den notwendigen Fähigkeiten aus, um diese Jobs zu bekommen? Und wie stellen wir sicher, dass harte Arbeit auch ein anständiges Leben ermöglicht?“ Letzteres will Obama zuerst damit erreichen, den Mindestlohn, derzeit festgelegt auf 7,19 Dollar pro Stunde, auf 9 Dollar anzuheben und zukünftig jährlich an die Inflation anzupassen. Er will Vorschulprogramme für alle und die Kosten für Studierende senken, und er will die dringendsten Infrastrukturreparaturen veranlassen, etwa der „rund 70.000 baulich unsicheren Brücken“.
Obama kündigte außerdem an, mit der Europäischen Union über einen Freihandelsvertrag sprechen zu wollen; eine Absicht, die EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso nur Stunden später in Brüssel bestätigte. Noch im Wahlkampf hatten die Republikaner kritisiert, dass sich Obama in seiner ersten Amtszeit für keine neuen Freihandelsverträge eingesetzt hatte.
Außenpolitisch war die einzige konkrete Ankündigung, bis Ende kommenden Jahres 34.000 Soldaten aus Afghanistan abzuziehen. Nichts Konkretes sagte Obama zur Zukunft der US-Atomwaffen, er kündigte nur allgemein an, mit Russland über weitere Reduzierungen des Arsenals zu sprechen. Die New York Times hatte Anfang der Woche berichtet, Obama werde eine Kürzung des Arsenals von derzeit 1.700 auf 1.000 Atomsprengköpfe vorschlagen.
Obama sprach ausführlich über den Klimawandel und die Notwendigkeit weiterer Emissionsreduzierungen. Wenn der Kongress nicht bereit sei, „eine überparteiliche, marktbasierte Lösung gegen den Klimawandel“ zu verabschieden, werde er das allein tun.
Vage blieb Obama in Bezug auf das Kernthema der Republikaner: Schuldenabbau und Defizitreduzierung. Zwar sprach er von zu schließenden Steuerschlupflöchern, intelligenten Einsparungen und dem Umbau von Medicare, ohne dabei aber ins Detail zu gehen. Nur eines machte er deutlich: Er will die ständige Bedrohung von Regierungsfähigkeit und Wirtschaft durch selbst gemachte Deadlines nicht mehr akzeptieren, so etwa die anstehende Diskussion über die Erhöhung der Schuldenobergrenze oder die automatisch in Kraft tretenden Kürzungen, wenn sich der Kongress auf nichts anderes einigt. „Die großartigste Nation der Welt kann nicht damit weitermachen, sich von einer selbst geschaffenen Krise zur nächsten zu hangeln“, sagte Obama. Applaus und lauter Jubel – bei den Demokraten.
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