Machtkampf in der Türkei: Der Siegesrausch der AKP

Die regierende AKP hat den Machtkampf mit dem Militär gewonnen. Doch das Ergebnis ist zwiespältig: Nicht mehr Demokratie, sondern Autoritarismus und Islamisierung.

Muss sich nun doch für den Putschversuch von 2003 rechtfertigen: Ex-Admiral Ozer Karabulut, einer von 49 angeklagten Militärs, auf dem Weg ins Gericht. Bild: dpa

ISTANBUL taz | "Jahrzehntelang haben sie uns observiert, abgehört und Akten über uns angelegt. Jeder, dessen Frau ein Kopftuch trug und der konservative Meinungen vertrat, war verdächtigt und wurde registriert. Jetzt sind wir an der Macht, jetzt werden wir uns sie vornehmen." Als der Abgeordnete der regierenden AKP, Avni Dogan, letzte Woche diese Ankündigung öffentlich zum Besten gab, reagierte die Parteiführung aufs Höchste alarmiert. Dogan wurde verwarnt, und ein Sprecher der Partei erklärte, der Regierung gehe es allein um die Durchsetzung demokratischer Standards.

Trotzdem dürften viele Türken an Dogans Bemerkung gedacht haben, als vom Montagmorgen bis zum späten Abend die Breaking News über die Bildschirme flimmerten. Den ganzen Tag waren Einsatzteams der Polizei unterwegs, um in einer beispiellosen Aktion Privathäuser, Büros und Offizierswohnheime zu durchsuchen und 49 ehemalige oder aktive Offiziere festzunehmen, darunter den früheren Kommandanten der Luftwaffe, Ibrahim Firtina, und den ehemaligen Oberbefehlshaber der Marine, Özden Örnek. Die Aktion "berührte alle bislang Unberührbaren", titelte tags darauf die regierungsnahe Zeitung Zaman mit triumphalen Unterton.

Unter den Festgenommenen befindet sich, abgesehen vom damaligen Generalstabschef Hilmi Özkök, der komplette Generalstab der Jahre 2003/04, außerdem ein "Nationalheld" wie Generalleutnant Engin Alan, unter dessen Leitung PKK-Führer Abdullah Öcalan 1999 in Kenia gefangen genommen wurde. Ihnen wird vorgeworfen, an einem der Putschpläne, die in den letzten Wochen publik wurden, beteiligt gewesen zu sein. Örneks Festnahme ist wenig überraschend, hatte die Zeitschtrift Nokta doch im Frühjahr 2007 das Tagebuch des Admirals veröffentlicht und damit erstmals Putschpläne gegen die islamisch grundierte Regierung von Ministerpräsident Tayyip Erdogan nachgewiesen.

Seitdem ist viel passiert. Hunderte Militärs, Geheimdienstleute, Professoren, Journalisten, Anwälte und Staatsanwälte wurden verhaftet und sind mittlerweile angeklagt, einem Geheimbund namens Ergenekon anzugehören. Sie alle sollen sich gegen die Regierung verschworen haben und durch eine "Strategie der Spannung", also mittels Terroranschläge und Attentate, einen Putsch vorbereitet haben. Längst beklagen Intelektuelle wie der Soziologe und Kolumnist Haluk Sahin, dass nicht nur gegen potenzielle Putschisten vorgegangen werde, sondern ebenso gegen friedliche Kritiker der Regierung. "Es herrscht ein System der Einschüchterung", sagt Sahin.

Hatte das Land nach den ersten Verhaftungen hoher Militärs sich ängstlich gefragt, ob nun als Antwort die Panzer rollen würden, sind diese Befürchtungen längst verflogen. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hielt es noch nicht einmal für nötig, während des finalen Schlages gegen seine Gegner vor Ort zu sein. Er weilt zu einem Staatsbesuch in Spanien und wollte die Verhaftungen nicht kommentieren.

Ganz anders Generalstabschef Ilker Basbug. Er war gerade auf dem Weg nach Ägypten, als er von der Polizeiaktion erfuhr. Er sagte seine Reise im letzten Moment ab. Doch während er bei früheren Verhaftungen noch vehement bestritt, dass aktive Offiziere in Putschpläne verstrickt sein könnten, ist er dieses Mal auffällig ruhig. Stattdessen wird in der Regierung offen über seine Ablösung debattiert. Erdogan soll allerdings dagegen sein, weil sein turnusgemäßer Nachfolger nicht "die Gewähr für eine demokratische Gesinnung" biete.

August 2001: Nach dem Verbot mehrerer islamistischer Parteien gründen jüngere, gemäßigte Kader der Milli Görüs die Partei Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Vorsitzender wird der vormalige Bürgermeister von Istanbul, Recep Tayyip Erdogan.

November 2002: Die AKP erringt 34,4 Prozent; Abdullah Gül wird Ministerpräsident.

März 2003: Nach einer Verfassungsänderung, die sein Politikverbot beendet, wird Erdogan Ministerpräsident.

März 2007: Das Nachrichtenmagazin Nokta berichtet, dass hochrangige Militärs 2004 einen Putsch vorbereitet hätten und nur die Intervention des Generalstabschefs den Putsch verhindert habe. Die Militärstaatsanwaltschaft Ankara geht gegen die Zeitschrift vor; sie wird schließlich eingestellt.

April 2007: Millionen Menschen demonstrieren gegen Erdogans Wahl zum Staatspräsidenten und eine Islamisierung der Türkei. Auf der Internetseite des Generalstabs wird eine Putschdrohung veröffentlicht.

Juli 2007: Mit 46,6 Prozent erringt die AKP den Wahlsieg.

August 2007: Gül wird Staatspräsident.

März 2008: Der Generalstaatsanwalt von Ankara leitet gegen die AKP ein Verbotsverfahren ein.

März 2008: 13 mutmaßliche Mitglieder der Geheimorganisation Ergenekon werden verhaftet - ehemalige Militärs, aber auch Journalisten, Politiker und Professoren. Ihnen wird vorgeworfen, durch Anschläge wie dem Mord am Publizisten Hrant Dink einen Putsch vorbereitet zu haben. Weitere Verhaftungen folgen.

Oktober 2008: Gegen 86 Angeklagte beginnt der Ergenekon-Prozess.

November 2009: Wegen der Abhörung von 65 Staatsanwälten und Richtern wird ein neues AKP-Verbotsverfahren eingeleitet. DZY

Galt es bis vor einem halben Jahr noch als undenkbar, dass ein Regierungschef es wagen könnte, einen Generalstabschef einfach in den Ruhestand zu schicken, ist es nun so, dass man den amtierenden obersten Militär lieber noch im Amt belässt, bis eine befriedigende Nachfolgeregelung gefunden wird. Damit scheint die bald 90-jährige Geschichte der Republik zu Ende zu gehen. "Die Zeit, in der die Armee geputscht hat, ist vorbei", musste selbst Generalstabschef Basbug kürzlich eingestehen.

Dennoch ist die Stimmung im Land verhalten. Bis auf wenige bekannte islamistische Kommentatoren, die gelegentlich in die Siegesfanfare blasen, ist von Begeisterung über den Sieg über das Militär auf den Straßen nichts zu spüren. Der Kampf gegen den sozialen Abstieg bestimmt den Alltag der meisten Türken und Türkinnen, die schon lange das Gefühl haben, dass der Machtkampf zwischen Islamisten und Kemalisten von den wahren Problemen ablenkt.

Anders sieht es unter Intellektuellen, Künstlern, Schriftstellern und Kulturschaffenden aus. Während die einen, wie der Chefredakteur von Taraf, Ahmet Altan, oder auch der Nachfolger von Hrant Dink als Redaktionsleiter der armenisch-türkischen Zeitschrift Agos, Etyen Mahcupyan, vehement die demokratischen Errungenschaften der AKP-Regierung verteidigen, fürchten andere vom Regen in der Traufe gelandet zu sein.

Einer von ihnen ist Özen Yula, Autor und Dramaturg. "Ich fürchte um mein Leben", ließ er letzte Woche einen Sprecher des Istanbuler Offtheaters "Kumbaraci 50" mitteilen. Yula ist Autor eines Stückes, das übersetzt heißt: "Lecke ab, aber schluck nicht hinunter". Das Stück sollte in diesen Tagen uraufgeführt werden, wurde aber abgesetzt, weil Yula und Mitglieder des Ensembles bedroht worden waren.

Im Stück geht es um einen Engel, der versucht, auf der Erde einen guten Menschen zu finden. Der Engel erscheint als verarmte Hausfrau, die als Pornodarstellerin ihren Unterhalt aufbessert. Das genügte, damit die islamistische Tageszeitung Vakit eine regelrechte Hetzkampagne startete.

Die von der AKP geführte Bezirksverwaltung von Beyoglu ließ daraufhin das Theater versiegeln. Brandschutzbestimmungen seien nicht eingehalten worden. Ein bekannter Fernsehmoderator nahm sich der Geschichte an und sorgte immerhin für so viel öffentlichen Druck, dass das Bezirksamt zurückwich. Doch aus Angst um Leben und körperliche Unversehrtheit der Schauspieler sagte die Theaterleitung das Stück schließlich ab.

Das Schicksal dieses Theaters geht weit über den Einzelfall hinaus. Kunst, die nackte Haut zeigt, hat in der Türkei heutzutage ein großes Problem. Das mussten sogar die Macher der erfolgreichsten Fernsehserie des Landes feststellen. "Ask-i Memnu" ("Verbotene Liebe"), heißt die erfolgreichste Soup des türkischen Fernsehens, die auch in die arabischen Nachbarländer verkauft wurde und dort geradezu Kultstatus erreichte. Nachdem in Ländern wie Saudi-Arabien islamistische Geistliche bereits ein Verbot der Serie gefordert hatten, wird nun auch in Türkei darüber diskutiert. Die Serie, die davon handelt, wie sich ein Mann in seine Schwägerin verliebt, untergrabe die Familienwerte des Landes, kritisierte die neue Familienministerin Aliye Kavaf unlängst. Seitdem prüft der Medienaufsichtsrat ein Verbot.

Der Kulturkampf zwischen einer um ihre Freiheit ringenden Gesellschaft und immer einflussreicheren religiösen Gruppen und Parteien ist aber nicht auf Theater, Film und Fernsehen beschränkt. So mussten im letzten Sommer Besucher einer beliebten Bar direkt am Meer im Istanbuler Bezirk Moda feststellen, dass über Nacht sämtliche alkoholische Getränke von der Karte verschwunden waren. Die Kneipe wird von der städtischen Fährgesellschaft verpachtet, die den Ausschank von Alkohol verboten hat.

Während an anderen Orten Alkoholverbote stillschweigend hingenommen wurden, gab es in dem sehr westlich orientierten Stadtteil Moda einen Aufstand. Wochenlang zogen Demonstranten mit Bier in der Hand vor die Kneipe und forderten das Recht, in ihrer Freizeit am schönsten Platz der Gegend auch Alkohol trinken zu dürfen. Als Antwort kam die Polizei und verprügelte die Leute so oft, bis sich niemand mehr traute, dort zu erscheinen.

Obwohl Bier und der Anisschnaps Raki in der Türkei geradezu Volksgetränke sind, geht die Anzahl der Verkaufsstellen für alkoholische Getränke kontinuierlich zurück. Die größte Brauerei des Landes, Efes Pilsen, klagte erst vor wenigen Tagen, sie könne ihr Produkt an immer weniger Plätzen verkaufen. Der Grund dafür ist, dass Lebensmittelhändler an vielen Orten durch eine AKP-kontrollierte Finanz- oder Lebensmittelaufsicht gedrängt werden, kein Alkohol mehr zu verkaufen. Wer partout nicht hören will, kann dann schon mal drastischere Schritte erleben.

In Ankara wurden Kioskbesitzer, die im Ramadan Bier verkauften, von islamistischen Schlägertrupps verprügelt. Der Oberbürgermeister, ein führender AKP-Islamist, wollte wegen angeblicher Lärmbelästigung eine der beliebtesten Kneipenstraßen der Hauptstadt dichtmachen. Nur starke Proteste führten zu einer Verschiebung des Vorhabens. In den meisten Städten Anatoliens ist es dagegen bereits unmöglich, noch eine Lizenz für Alkoholausschank zu bekommen. Großstädte wie Konya oder Kayseri sind praktisch alkoholfrei.

Angesichts solcher Entwicklungen werden erklärte Sympathisanten der AKP skeptisch. So schrieb der Kolumnist Mustafa Akyol vor zwei Tagen: "Ich glaube, dass die politische Kultur der AKP immer mehr zum Autoritarismus neigt. Eine total von der AKP dominierte Türkei würde deshalb weder lustig noch frei oder demokratisch sein."

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