Kolumne Die Charts: Wie ich Guido Westerwelle erfand

Was wirklich zählt im 21. Jahrhundert. Folge IV: Dafür sein

Tja, dann setzt euch mal hin und kuschelt euch eng aneinander, damit ihr nicht so friert, liebe Urenkel. Und hört genau zu, wie das früher war. Da war euer Urgroßvater immer dagegen. Knallhart. Was es auch war. Unangesagte Französisch-Arbeit - dagegen. Schaffner - dagegen. Strauß, Schmidt, Kohl, Filbinger, Späth, Reagan, alle Päpste - dagegen. Heino und Claudia Roth - dagegen. Kapitalismus, Atomkraftwerke, Krieg - voll dagegen.

Ha: Ich war sogar gegen Overath.

Und selbstverständlich war ich auch gegen Deutschland. Was? Da braucht ihr gar nicht so zu schauen. Deutschland ging gar nicht. Im Sommer flüchtete ich auf griechische Inseln, den Rest des Jahres hielt ich tapfer im ironischen Widerstand stand und wärmte mich an den zeitgenössischen Projektionen eines anderen Deutschland. Also Netzer und Nastassja Kinski.

Kindergarten, Grundschule, Gymnasium, Waisenrente, Studium. Wir führten ein Leben auf einem Bildungs- und Wohlstandsniveau, wie es das in der Geschichte der Menschheit zuvor nie gegeben hatte. Stellt euch mal vor: Wir hatten ein Zimmer von 10 Quadratmetern und waren nur zu zweit. Und es war auch noch beheizt. Wirklich. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, mich bei Deutschland dafür zu bedanken. Vielleicht bei Dylan. Aber sicher nicht bei Deutschland.

Um den Wechsel des Jahrhunderts herum kam dann eine wirklich schlimme Zeit. Wir nannten sie: "Rot-grüne Jahre". Ich konnte nicht mehr richtig dagegen sein, aber auch nicht dafür, Gott bewahre. Die waren ja auch blöd.

Richtig glücklich wurde ich erst wieder um das Jahr 2010 herum. Der Erlöser hieß Guido Westerwelle. Der Mann ging ja gar nicht. Endlich wieder ein Politiker, der meine wichtigsten emotionalen und kulturellen Bedürfnisse verstand. Und befriedigte. Wie eure Uroma zu sagen pflegte: Man hätte diesem Westerwelle mit wachsender Begeisterung die Schnauze polieren wollen. Jedes Mal, wenn er redete. Und die war sonst eine ganz feine Frau, eure Uroma. Auch ich spürte die alte Wut.

Wir sprachen seinen Namen immer absichtlich falsch aus: Gu-i-do. Wir diskutierten nächtelang, ob wir emigrieren sollten - nach Mallorca. Entschieden uns aber auch hier dagegen. Endlich waren wir wieder wir. Endlich wussten wir wieder, wo wir standen - wenn dieser Mann Deutschland war. Ein bitteres Gefühl. So was gibt man nicht leichtfertig auf. Manchmal denke ich, hätte es diesen Westerwelle damals nicht gegeben, ich hätte ihn mir erfunden. Oder vielleicht habe ich das ja.

Um es kurz zu machen: Als sich die Mehrheitsverhältnisse dann wieder änderten, stritten wir untereinander weiter, spielten die ökologische gegen die soziale Frage aus und diskutierten jahrelang das Menschenrecht auf Billigfliegen.

Wir hatten einfach nichts Gemeinsames mehr, als wir nicht mehr dagegen sein konnten. Ich kann mir gut vorstellen, dass ihr nun denken werdet, dass sie eurem Uropa ganz schön ins Gehirn geschissen hatten. Aber ihr seid eben um 2040 herum geboren. Früher war alles viel komplizierter, Leute.

So, nun fegt noch schnell die Höhle aus und holt die Rattenfelle. Und dann heißt es: Kerzen aus. Es ist Zeit zu schlafen.

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Chefreporter der taz, Chefredakteur taz FUTURZWEI, Kolumnist und Autor des Neo-Öko-Klassikers „Öko. Al Gore, der neue Kühlschrank und ich“ (Dumont). Bruder von Politologe und „Ökosex“-Kolumnist Martin Unfried

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