Bundeswehr im Selbstversuch: Marschieren fühlt sich an wie Sex
Wie fühlt es sich an, gehorchen zu müssen? Unsere Autorin hat bei der Bundeswehr den Leistungsmarsch absolviert. Ihr Fazit: Die persönliche Freiheit ist unbezahlbar.
Juli 2009: Ich ziehe das erste Mal meine Uniform an, den "Tagesdienstanzug Flecktarn". Ein olivfarbenes T-Shirt, die Feldbluse, die schwarzen Wollsocken und die Hose mit den Gummihosenbändern, die um die Unterschenkel gelegt werden und in Höhe des Stiefelschaftes in die die Hosenbeine einzuschlagen sind. Als ich die schweren Kampfstiefel anziehe und meine Stubenkameradin mir erklärt, was ich alles in den Hosentaschen mitzuführen habe - Messer, ABC-Taschenkarte, Taschenkarte zum Humanitären Völkerrecht, Schreibzeug, Schirmmütze -, fühle ich mich eigenartig. Verkleidet. Zumindest ist der Anzug bequem und robust, in ihm gehöre ich auch optisch zu meiner Einheit, dem Zug 35.
Die Marineschule Mürwik bei Flensburg gilt als Kaderschmiede. Seit 1910 werden hier, in einem roten Schloss bei Flensburg, Offiziere ausgebildet. Für vier Wochen bin ich freiwillig kaserniert, lerne als 35-Jährige zusammen mit 18- und 19-Jährigen, Frühsport um fünf Uhr morgens ohne Murren auszuführen. Und zu marschieren. Für meine 16 Kameraden und die eine Kameradin ist das hier alles erst der Anfang, sie haben sich in der Hoffnung auf eine abgesicherte Zukunft für zwölf Jahre verpflichtet. Und jedes Jahr müssen sie einen "Leistungsmarsch" absolvieren, dreißig Kilometer mit schwerem Gepäck.
Marschieren ohne Gepäck heißt "Formaldienst". Dabei müssen wir teils widerspenstigen Teenager stundenlang auf dem riesigen Parkplatz so einheitlich und ordentlich wie möglich geradeaus, rechts, links lang laufen lernen. Wenn das nicht klappt, dürfen wir uns auf den Boden schmeißen und allesamt, immer wieder, Liegestütze machen. Dann ist erst mal Schluss mit Faxen. Richtiges Marschieren geht über mehrere Kilometer, mit 26 Kilo Gepäck auf Schultern und Rücken. Und der richtige Marsch, der überrascht gern im Schlaf.
Dies ist ein Text aus der sonntaz, die am 20. März erscheint – unter anderem mit einem Interview mit drei Menschen, die Terroristen gewesen sein sollen und dem Lebenswerk eines Baumsammlers. Das alles zusammen mit der aktuellen taz ab Samstag am Kiosk
Das Experiment: Für eine Langzeitreportage hat die Autorin ein Jahr lang Soldatinnen begleitet. Am Anfang ihrer Recherche stand die vierwöchige Ausbildung an der Waffe an der Marineschule Mürwik in Schleswig-Holstein.
Die Rekrutin: Jasna Zajcek, Jahrgang 1973, ist Journalistin. 2005 wurde ihr der CNN Journalist Award für die taz-Reportage "Mein geheimes Militärtagebuch" verliehen. Darin schildert sie ihre Erlebnisse in einem US-Militärcamp, wo sie für Militärübungen eine paschtunische Afghanin spielte. 2007 erschien bei Herder ihr Buch "Ramadan Blues", ein Roadmovie zwischen Orient und Okzident.
Das Buch: Dieser Tage erscheint im Piper Verlag Zajceks neues Buch "Unter Soldatinnen. Ein Frontbericht". Darin schildert sie ihr Jahr bei der Bundeswehr und beleuchtet vorrangig die Rolle der Frauen in der Armee. Das Buch kostet 14,95 Euro.
Um drei Uhr morgens bekomme ich kalte Wasserspritzer ins Gesicht. Jemand zischt in mein Ohr: "In dreieinhalb Minuten mit Marschgepäck antreten auf dem Gang, kein Licht, keine Geräusche." Ich bin knallwach. Vier Stunden Schlaf seit dem letzten Bier mit den Jungs, sechs Stunden nach der letzten von drei Sportunterrichtseinheiten des vergangenen Tages. Ich springe auf, die Gelenke knirschen, der Muskelkater hat mich im Griff. Egal. Ab in den Tagesdienstanzug Flecktarn, ich nehme das sechs Kilo schwere Koppel auf und schultere den 20 Kilo schweren Rucksack. Mein Gehirn funkt: "Absetzen, danke, jetzt weiß ich, was die Jungs und Mädels in Afghanistan leisten, bitte um Erlaubnis zum Wiederhinlegen."
Mein Kreislauf! Ich schwanke zwischen Ins-Bett-Hechten und Ohnmächtigwerden oder Einfach-Umfallen. Nix da! Vorwurfsvolle Blicke meiner Stubenkameradin Steffi, 18, mit der ich den Beginn ihrer Ausbildung miterlebe. Keinesfalls kann ich sie alleine in unserem Zug von Jungs, vor denen es sich zu behaupten gilt, marschieren lassen. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet die Bundeswehr im Jahr zehn nach ihrer Öffnung für Frauen mich zur Hardcore-Frauensolidarität erzieht?
Wie auch immer, jetzt ist keine Zeit, nachzudenken. Funktionieren! Steffi beim Schultern ihres Kampfrucksacks helfen. 20 Kilo Gewicht, verteilt auf ABC-Maske, ABC-Poncho, Regenhose, Zeltplane, Badeanzug, Zahnbürste, Turnschuhe, weiße Socken, Schlafsack, Wechselwollsocken und Taschenspaten: alles an der Frau. Steffi korrigiert schnell meinen Kragen. Stiefel geputzt? Los gehts! Antreten im Flur, vier Stockwerke runterstürmen, das Koppel schmerzt, der auf dem Rucksack festgebundene Helm donnert mir ständig ins Genick. Nach dem Sinn fragen: besser nicht. Zeit, den Kram zu richten: keine. Weiter. Den anderen tut bestimmt auch was weh.
Auf dem Kasernenhof heißt es: "In die Formation, wir marschieren gegen die Züge 31 und 32, wir haben keine Zeit zu verlieren." Ich flipp aus. Was hab ich mir wieder eingebrockt? 3.04 Uhr morgens in Flensburg, 26 Kilo sinnloses Marschgepäck für einen Verteidigungsfeldzug für Deutschland nach dem Atomkrieg oder ultimativen Taliban-Angriff am Körper - und ab gehts in die Reihenhaussiedlung, die die Marine-Schlosskaserne umgibt.
Ungeachtet der Unbescholtenheit der Anwohner und der Frühe des Morgens müssen wir, Zug 35, aus allen 17 Kehlen unser Zuglied singen: "Zug 35, das sind wir, das Marschieren lieben wir". Absurderweise kämpfe ich noch keinen Kampf gegen mich. Hier im Armeetraining ist mein Körper das ausführende Organ des journalistischen Auftrags geworden. Denken, Fühlen, selbstbestimmtes Handeln: am Kasernentor abgegeben. Ich trage meine 26 Kilo, wie jeder und jede andere hier auch.
Ein Albtraum aus Blutblasen und Schweiß
Sechs von zehn Kilometern sind geschafft. Das Koppel scheuert, das gibt blutige Wunden, ebenso die Stiefel und die Tragegurte des Kampfrucksackes. Ah! Plötzlich kickt ein körpereigenes Lebenserhaltungssystem, und Marschieren fühlt sich an wie Sex: Es pumpt. Adrenalin, Serotonin, Dopamin. Yippie, welcome!
"Hahah, was kann denn so schwer daran sein, einen Rucksack ein paar Kilometer weit zu tragen?", höre ich den 23-jährigen Unteroffizier brüllen. Verdammt, nichts! Mein natürlicher Widerstand gegen Autoritäten ist alarmiert. Mir ist absurd heiß, ich scheuere mich wund. Schweiß mischt sich mit Blut. Es brennt. Ich stinke. Alle neben, vor, hinter mir auch. Die Füße spüre ich nicht mehr, sie sind in einem ergonomischen Traum aus Blutblasen und Schweiß aufgegangen, als passionierte High-Heel-Trägerin weiß ich, wovon ich spreche. Mit Steffi zusammen das Ziel zu erreichen steht trotz der Schmerzen nicht in Frage. Nur zwei Frauen im Zug, wie peinlich wäre es, wenn eine, also fünfzig Prozent versagen würden? Hundert gar? Nicht auszudenken.
Die Sonne geht auf, das rote Schloss zeigt sich am Ende der Straße, irgendwie sind die zehn Kilometer vergangen. Der Hauptbootsmann beginnt zu joggen, der Zug, Steffi und ich joggen mit, wachsen über uns hinaus und jubeln beim Frühstück über unseren Erfolg.
Was bleibt? Immerhin, mich haben die vier Wochen diszipliniert. Seither stehe ich pünktlich auf, mache ordentlich mein Bett und schaffe es sogar, in meinem Kleiderschrank System zu halten. Verstanden habe ich: Die persönliche Freiheit ist unbezahlbar, und mit persönlicher, militärischer Disziplin schafft man an einem normalen Arbeitstag mehr als das Doppelte an Aufgaben. Aber das das ganze Leben lang …?
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