Roman von Hans Joachim Schädlich: Von Trivialität befreites Traumschiff

Die Zeit der Gewalt und der Ideologien: In seinem neuen Roman folgt Hans Joachim Schädlich den Lebensreisen eines fast hundertjährigen Helden

Verknapper, Lakoniker, Stoiker: Hans Joachim Schädlich im Januar 1978. Bild: dpa

Ein wenig muss man sich die Augen reiben: Was Hans Joachim Schädlich in seinem neuen Roman an geschichtlichem Material, an Zeitläuften zusammenfügt und organisiert, würde anderen Schriftstellern gleich für mehrere dickleibige Bücher ausreichen. Von Historikern ganz zu Schweigen. Einem Schädlich dagegen, einem Sprachbeherrscher von naturwissenschaftlicher Exaktheit, einem Verknapper, Lakoniker, Stoiker, genügen dafür knapp 200 Seiten. Für die Oktoberrevolution in Russland und die gewaltsame Machtübernahme durch die Bolschewiken; für das Berlin der Zeit vor dem Nationalsozialismus, für die Niederschlagung des Prager Frühlings im Jahr 1968, für die Zerstörung des World Trade Centers. Ein ganzes Jahrhundert (und noch wenige Jahre mehr) der Gewalt und der Ideologien.

Seine Charaktere durch diese Kontinuitäten hindurch laufen zu lassen und die Kontinuität von Macht- und Unterwerfungsstrukturen in den Individuen selbst darzustellen - das ist eine Spezialität von Hans Joachim Schädlich. "Tallhover" ist das berühmteste Beispiel dafür; "Kokoschkins Reise" folgt, wenn auch auf andere Weise, diesem Prinzip. Der 95-jährige Protagonist Fjodor Kokoschkin, emeritierter Botanikprofessor mit Wohnsitz New York, ist in diesem Fall die Figur, in der die Weltgeschichte sich vollzieht.

Um Ordnung in den verwirrenden Lebensweg seines Helden zu bringen, führt Schädlich zwei Handlungsstränge nebeneinander her. Beide hätten für sich genommen den Titel des Romans verdient: Der eine ist Kokoschkins Rückfahrt auf dem Ozeanriesen "Queen Mary 2" von Southampton nach New York. Sechs Tage, in denen die Soziologie einer solchen Reisegesellschaft auf das Prächtigste geschildert wird.

Fast fühlt man sich ein wenig wie in einer von Trivialität befreiten "Traumschiff"-Folge. Da flirtet Kokoschkin mit der ihm eigenen Dezenz mit der halb so alten Architektin Olga Noborra, lädt sie zum Konzert ein, in die Champagner-Bar und führt schließlich gar eine formvollendete Karaoke-Nummer für sie auf. Da streitet sich die Tischgesellschaft über die Weltpolitik und den Umgang mit islamischen Extremisten. Da werden die Fragen der Sicherheit des Luxusschiffes erörtert. Oder man fragt sich schlicht, ob man lieber beim Bridge für Anfänger, beim Musikquiz oder am Golfsimulator seine Freizeit verbringen soll. Die Komik dieser Passagen wird noch gesteigert durch die an sich schon absurde Wiedergabe diverser Menükarten, deren komplizierte Verschraubtheit Exklusivität erzeugen soll.

Die zweite Reise ist Kokoschkins Lebensweg selbst, den er in Begleitung seines alten Prager Freundes Jakub Hlavácek soeben noch einmal zurückgelegt hat - ein Trip durch das alte Europa, auf den Spuren der eigenen Biografie; eine letzte Vergegenwärtigung dessen, was war, was man selbst war.

Kokoschkin wurde in St. Petersburg geboren. Sein Vater wurde als Mitglied der provisorischen Regierung unter Kerenski von den Bolschewiken ermordet. Für den zu diesem Zeitpunkt achtjährigen Fjodor beginnt an der Seite seiner Mutter eine europäische Odyssee: Odessa, Berlin, Paris. Berühmte russische Exilanten treten auf und erweisen sich als stille Helfer: Iwan Bunin (der erste russische Literaturnobelpreisträger, ausgerechnet im Jahr 1933), Nina Berberova.

Fjodor Kokoschkin erhält mit Glück und Geschick einen kostenlosen Internatsplatz außerhalb von Berlin. Er lernt die deutsche Sprache, man erkennt sein musisches Talent. Später nimmt er im Botanischen Garten eine Aushilfsstelle an. Ein Mädchen, das er kennen lernt, lässt er zurück, als er vor dem Nationalsozialismus nach Prag und dann nach Amerika flieht. Lebensstationen, die er noch einmal abgeht.

Aus diesem Erfahrungshorizont lassen sich Würde, Souveränität und Klugheit des alten Kokoschkin ableiten: Er ist ein Mann, der zu viel gesehen und zu viel erlebt hat, um noch unangenehm überrascht werden zu können. Ein ewig Vertriebener, der die eigene Staatenlosigkeit seiner frühen Jahre erst abgelegt hat, als er sich in den USA in Sicherheit wähnte. Einer, der die Gefahr im Blut hat. Oder anderswo: "Ich habe es im Urin", sagt er 1968 zu seinen Prager Gastgebern, "die Russen überfallen die Tschechoslowakei."

Man kann nicht über "Kokoschkins Reise" sprechen, ohne die außergewöhnliche, in ihrer Kargheit bestechende Sprache zu erwähnen. Bei aller Knappheit erreicht Schädlich einen geradezu verwirrend hohen Grad an Anschaulichkeit. Es kann keine Rede sein von einem opulenten Panorama des Jahrhunderts, das hier aufgefaltet würde, im Gegenteil. Der Reiz liegt vielmehr in der Szenenhaftigkeit, in den Einzelbildern, die sich jeder demonstrativen Repräsentationspflicht verwehren und auf diese Weise umso eindringlicher gelingen.

Einen großen Stoff auf diese Weise zu kondensieren, ohne ihn klein zu machen, vermag nur ein fabelhafter Autor. Unmittelbar nach dem Einschiffen in Southampton steht Kokoschkin an Deck der "Queen Mary 2". "Nach der Reise mit Jakub Hlavácek kam plötzlich große Ruhe über ihn. Das Schiff eine Insel. Kokoschkin unerreichbar. Die Aussicht auf eine gleichmäßige mittlere Geschwindigkeit. Besinnung auf die Bilder der Vergangenheit." Diese Bilder hat Hans Joachim Schädlich gezeichnet: scharf, klar, gegenwärtig.

CHRISTOPH SCHRÖDER

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.