Steile Thesen gegen Arbeitslose: "Hetze ist salonfähig geworden"
Ein Emeritus diffamiert Hartz-IV-Empfänger in Großzeitungen: Hans Endl erklärt, warum der Fall Heinsohn allen Demokraten zu denken geben muss
taz: Herr Endl, warum nehmen Sie Herrn Heinsohn so ernst?
Hans Endl: Gunnar Heinsohn ist emeritierter Professor der Uni Bremen - mit der wir kooperieren. Wir haben ein gemeinsames Institut. Seine sozialdarwinistischen Thesen hat er in der Welt und der FAZ veröffentlicht. Das sind meinungsbildende Medien. Solche Artikel waren bis vor kurzem als Beiträge in großen Tageszeitungen undenkbar. Insofern liegt uns daran, seine Äußerungen nicht einfach ,durchgehen zu lassen'. Mir wird Angst, wenn die menschenverachtenden Thesen von Herrn Heinsohn auf diese Weise unwidersprochen in die Welt getragen werden.
Aber wissenschaftlich hat Heinsohn doch Schiffbruch erlitten: Aufgefallen ist er durch haltlose Thesen zur Hexenverfolgung oder übers ,erfundene Mittelalter'. Und den nimmt man als Teilnehmer der Sozialstaats-Debatte ernst?
Ich kann über die anderen Veröffentlichungen von Herrn Heinsohn nichts sagen, dies ist weder mein Interesse noch Aufgabe der Arbeitnehmerkammer. Aber selbstverständlich verfolgen wir die aktuellen Debatten über den Zustand des Sozialstaats. Und hier hat Heinsohn den von Westerwelle und Co. geforderten Abbau sozialer Leistungen mit -wenn man so will - wissenschaftlichen Weihen ausgestattet. Das ist für sich genommen ärgerlich, wäre aber soweit noch schlicht ein Teil der Debatte um den deutschen Sozialstaat.
Aber?
Erschütternd sind zwei Dinge: Da ist der absolut menschenverachtende und biologistische Ton seiner Ausführungen.
Zum Beispiel…?
Bildungsferne Mütter gebären bildungsferne Kinder, daran ändert nach Heinsohn keine Schule dieser Welt etwas. Die Diffamierung von Frauen, die Hartz IV beziehen, ist mit nichts zu vergleichen, was ich je seriös gelesen habe. Ich zitiere: "Die Sozialhilfe eröffnet Karrieren also nur für die Mädchen, die beizeiten schwanger werden, um selbst Ansprüche aufbauen zu können." In Heinsohns neuer Welt werden auch "bildungsferne Jungen, die über Gewalt nach oben streben, kaum noch gezeugt. Eine bedauernswerte, weil hoffnungslose Jugend wächst schlicht nicht mehr heran. Ungeborene können niemandem einen Baseballschläger über den Kopf ziehen, aber sie können auch von niemandem erniedrigt oder beleidigt werden." Man möchte den Kindern der Hartz-IV-Bezieherinnen solche Erniedrigungen in der Tat gerne ersparen. Aber nicht, indem man sie erst gar nicht zur Welt kommen lässt!
Wo will er denn damit hin?
Heinsohn, das ist klar, gefällt der Genpool der deutschen Gesellschaft nicht. Er will "Leistungsträger", wie er es nennt. Ich mag diesen Gedanken gar nicht weiterdenken.
Sie sprachen auch von zwei erschütternden Dingen.
Die zweite Sache kann ich kurz machen: Der Staat, insbesondere der Sozialstaat, ist für die Menschen da. Er garantiert das unveräußerliche Recht auf Leben und Teilhabe - letzteres hat das Bundesverfassungsgericht gerade klargestellt. Bei Herrn Heinsohn sind umgekehrt die Menschen für den Staat da. Sie müssen Leistung bringen, die Wirtschaft voranbringen, das Gemeinwesen stützen. Die Heinsohnsche Unterschicht stellt dagegen "eine Bedrohung für die Wirtschaft, für den Sozialstaat, das Gemeinwesen insgesamt" dar.
Dass derart krude Thesen medial so breit aufgegriffen werden - entspricht das einem gesellschaftlichen Konsens?
Das will ich nicht hoffen! Tatsache ist aber, dass seine Thesen und Behauptungen auf einen Boden treffen, der von Politik und anderen Meinungsbildnern bereitet ist. Solche Artikel waren, wie gesagt, bis vor kurzem undenkbar. Inzwischen ist die Hetze gegen Hartz-IV-Empfänger salonfähig geworden. Das sollte allen Demokraten mehr als nur ein bisschen zu denken geben.
Die Initiative Montagsdemo hat Heinsohn jetzt wegen Volksverhetzung angezeigt…
Ich bin kein Jurist und kann nicht beurteilen, ob hier ein Straftatbestand vorliegt. Für uns ist das Mittel der Wahl die öffentliche Debatte und Klarstellung. Aber den Gedanken der Kläger, dass hier pauschal diffamiert wird und eine Art "Klassenhass" geschürt wird, kann man teilen.
Aber wem wäre denn mit Denkbarrieren in der sozialen Frage geholfen?
Tja, Denkbarrieren… Wo liegt eine solche Barriere, und wo fängt das anti-demokratische Denken an? Kindern zu sagen, ihr wärt besser nicht geboren - das ist für mich kein Gedanke, sondern Menschenverachtung. Wir brauchen ganz sicher eine Diskussion über die Verfassung unseres Sozialstaats. Über die Benachteiligungen von Familien, über unser Rentensystem und darüber, wie wir mit einer hohen Zahl von Arbeitslosen umgehen wollen, ohne sie komplett ins gesellschaftliche Aus zu schicken. Und auch darüber, dass wir inzwischen über eine Million Menschen in der Bundesrepublik haben, die voll arbeiten und ihren Lohn mit Hartz IV aufstocken. Da würde ich Herrn Heinsohn gerne mal fragen: Sind das nun Leistungsträger? Oder Schmarotzer? Oder gehen da ein paar Fragen an die Unternehmen und an eine Politik, die so etwas möglich macht?
Ist die Diskussion um die Zukunft des Sozialstaats überhaupt noch zu retten?
Es publiziert gottlob nicht nur Herr Heinsohn. In der Süddeutschen stand ein wunderbarer Artikel von Heribert Prantl, der die Aufgaben des modernen Sozialstaats skizziert hat. Aber an diesen beiden Artikeln - dem von Prantl und dem von Heinsohn -lässt sich sehen, wie polarisiert die Debatte inzwischen ist. Vielleicht müssen sich nicht nur Politiker, sondern auch Wissenschaftler und Intellektuelle entscheiden, auf welche Seite sie sich schlagen wollen.
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