Prozess gegen Polizisten: Die Todesschüsse von Schönfließ

Ende 2008 erschießt ein Polizist den Autoknacker Dennis J. Er feuerte acht Schüsse auf ihn und sagt heute er habe aus Notwehr gehandelt. Vermutlich war schon die erste Kugel tödlich.

Familie, Freunde und Bekannte des getöteten Dennis J., etwa 250 Personen, zogen Mitte Januar 2009 in einem Trauermarsch von Berlin-Neukölln zum Polizeipräsidium. Bild: dpa

BERLIN taz | Nördlich von Berlin, kurz hinter der Stadtgrenze, liegt Schönfließ: eine blank geputzte Reihenhaussiedlung, in der Kinder auf der Straße spielen, Väter und Mütter im Sportdress zum Joggen losziehen und sich vor den Gartenzäunen Mittelklassewagen an Mittelklassewagen reiht. Die Schilder tragen Namen wie Spitzahornweg, Weidenweg und Feldahornstraße.

Nur das Graffito an der Rückwand der Einkaufspassage passt nicht ins Bild. "R.I.P. Jockel" ist in großen schwarzen Buchstaben an die ansonsten blütenweiße Hauswand geschrieben. R.I.P.: Rest In Peace - gewidmet dem 26-jährigen Dennis J. aus Berlin-Neukölln von seinen Neuköllner Freunden, die sich auf der Hauswand mit Namen wie Adis, Volle, Stev, David und James verewigt haben. Hätte man diese jungen Männer vor ein paar Jahren gefragt, was Schönfließ ist, sie hätten die Achseln gezuckt.

Am Silvesterabend 2008 hat sich das geändert. Seither ist Schönfließ für sie als der Ort gebrandmarkt, an dem sie einen ihrer besten Kumpel verloren haben: Dennis J., Jockel genannt. An dem Abend wurde der mit Haftbefehl gesuchte Autoknacker in der Siedlung von einem Berliner Polizeikommissar, der als Zivilfahnder eingesetzt war, erschossen. Dennis J. hatte in einem gestohlenen Jaguar in einer Parkbucht auf seine Freundin gewartet, die in Schönfließ wohnte.

Sieben Menschen starben 2009 in Deutschland durch Polizeikugeln, 2008 waren es zehn, 2007 zwölf.

Es wird in jedem Fall ermittelt, ob die Schussabgabe aufgrund von Notwehr oder -hilfe berechtigt war oder Anhaltspunkte für eine fahrlässige oder gar vorsätzlicheTötung vorliegen. Über den Ausgang der Verfahren gibt es keine Statistiken. Es ist kein Geheimnis, dass Verfahren gegen Polizisten oft wegen Notwehr oder -hilfe eingestellt werden. So auch geschehen im Fall des von 12 Polizeikugeln durchsiebten 24-jährigen Studenten aus Regensburg, Tennessee Eisenberg. Die Familie des Getöteten hat ein Klageerzwingungsverfahren eingereicht.

Am Dienstag beginnt vor dem Landgericht Neuruppin der Prozess gegen den 36-jährigen Todesschützen Reinhard R. und zwei seiner Kollegen. Es verspricht ein aufsehenerregender Prozess zu werden. Denn anders als die Staatsanwaltschaft, die dem R. Totschlag vorwirft, geht dessen Verteidiger davon aus, sein Mandant müsse freigesprochen werden, weil er in Notwehr oder Nothilfe gehandelt habe.

Zusammen mit zwei Kollegen, die auch in Zivil waren, war R. an jenem Abend nach Schönfließ gefahren, weil er den Hinweis bekommen hatte, dass Dennis J. dort auf seine Freundin warte. Insgesamt acht Schüsse - das ganze Magazin also - soll R. auf den jungen Mann abgefeuert haben. Aber schon der erste Schuss, so die Auffassung der Anklagebehörde, war der todbringende.

Der Schuss sei aus kürzester Distanz durch das Fenster der Fahrertür des Jaguar abgegeben worden, in dem J. saß. Die anderen Schüsse seien gefallen, als der laut Obduktionsgutachten mit Kokain zugedröhnte Dennis J. - obwohl tödlich verletzt - den Jaguar startete, losfuhr und dabei einen der auf der Straße stehenden Zivilfahnder streifte. J. kam mit dem Jaguar nur 200 Meter weit. Bei der Einkaufspassage, wo heute das Graffito zu sehen ist, prallte der Wagen auf geparkte Autos. Da war der 26-Jährige hinter dem Steuer vermutlich schon tot.

Für die Polizisten habe keine Notwehrsituation bestanden, meint die Staatsanwaltschaft. Den zwei mitangeklagten 33- und 59-jährigen Kollegen von R. wirft sie vor, falsche Angaben gemacht zu haben, um eine Bestrafung des Schützen zu verhindern. Nicht mal die Schüsse wollen die beiden wegen des Lärms von Silvesterknallern gehört haben.

Kein Gewalttäter

Dennis J. ist im Schillerkiez in Berlin-Neukölln groß geworden. In dem Viertel leben viele arme Leute, der Migrantenanteil ist hoch. Auch J. kam aus einfachen Verhältnissen. Seine Eltern trennten sich früh. Er und seine Schwester wuchsen bei der Mutter auf. Dennis halber Freundeskreis habe aus im Kiez geborenen arabischen und türkischen Migranten bestanden, erzählt der gebürtige Araber Walid O. Er betreibt eine Shisha Bar.

Dennis J.s Schwester ist mit einem gebürtigen Türken verheiratet, dem 29-jährigen Gebäudereiniger Kemal K. "Dass Jockel ein Deutscher war, hat man überhaupt nicht gemerkt", sagt er.

Dennis J. war, was man gemeinhin einen Serienstraftäter nennt: Einbrüche, Diebstahl, Nötigung, Sachbeschädigung und immer wieder Fahren ohne Führerschein. Damit fing alles an, erzählt sein Schwager. "Die typische Neuköllner Geschichte halt. Was tut ein 13-, 14-Jähriger, der gelangweilt auf der Straße rumhängt? Er schnappt sich 'ne Karre und fährt damit herum." Immer wieder wurde Dennis J. erwischt. Es folgte die klassische Karriere: Jugendarrestanstalt, Jugendknast, Männerknast. "Er ging immer rein und raus. Wer 160 Straftaten auf dem Kerbholz hat, ist kein Engel. Aber er war kein Gewalttäter", betont sein Schwager.

Es gab auch Ruhephasen. Im Jugendknast machte J. eine Ausbildung zum Zweiradmechaniker. "Mopeds waren sein ein und alles", erzählt der Schwager. Danach habe Dennis sogar eine Weile in einem Angestelltenverhältnis als Mechaniker gearbeitet. Ein fanatischer Bastler sei er gewesen, immer habe er seinen Freunden geholfen. Jeden zweiten Roller in Neukölln habe er frisiert. "Er hatte Benzin im Blut."

Die schlimmste Strafe für Dennis J. war, dass er aufgrund seiner zahlreichen Vorstrafen wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis keinen Führerschein machen durfte, sagt sein Schwager. Was aber noch fataler war: dass Dennis J., anders als seine Jugendfreunde, nicht den Absprung aus der Kriminalität geschafft habe. Im Gegenteil. Er habe sich mehr und mehr mit den falschen Leuten umgeben.

Zu guter Letzt lagen drei Haftbefehle gegen Dennis J. vor. Einer rührte daher, dass er im Sommer 2008 nach einem Einbruchsversuch gegen einen Polizisten Pfefferspray eingesetzt hatte, um der Festnahme zu entgehen. Ein anderes Mal hängte er einen Funkwagen filmreif ab, in dem er bei Rot über Kreuzungen und Bürgersteige raste. Dass er schließlich doch festgenommen wurde, lag daran, dass sein Auto nach mehreren Unfällen liegen blieb.

Dienstlicher Übereifer

Den Tipp, dass der Gesuchte am Silvesterabend 2008 nach Schönfließ kommen würde, um seine Freundin abzuholen, hatten die Polizisten von deren Familie bekommen. Zu diesem Zeitpunkt hatte R. schon ein paar Wochen persönlich nach J. gefahndet. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass der Beamte Dennis J. um jeden Preis habe festnehmen wollen und bei der Schussabgabe auch den Tod des Mannes in Kauf genommen habe. Dieser Eifer sei nicht nachzuvollziehen. Schließlich sei Dennis J. kein Mörder, den die Beamten zum Schutz der Allgemeinheit nicht hätten entkommen lassen dürfen. Irgendwann später, so die Überzeugung der Staatsanwaltschaft, hätte ihn die Polizei schon geschnappt.

"Es war eine Hinrichtung", sagt der Freund des Getöteten, Walid O. "Warum schießt der Polizist sein ganzes Magazin leer? Hätte er 16 Schuss drin gehabt, hätte er die auch abgefeuert."

Der Hauptangeklagte R. wird in dem Prozess von Rechtsanwalt Walter Venedey vertreten. Venedey residiert in einer Anwaltskanzlei am Berliner Ku'damm. Gregor Gysi, Chef der Linksfraktion im Bundestag, hat sein Büro in derselben Kanzlei. In grauer Vorzeit hat Venedey einen Angehörigen der Bewegung 2. Juni verteidigt. Heute gehört die Ex-RAF-Terroristin Verena Becker zu seinen Mandanten. Man könne ihn durchaus als politisch links und polizeikritisch eingestellt bezeichnen, sagt der Anwalt. Warum vertritt er dann den Todesschützen von Schönfließ? "Das ist keine Frage von Moral, sondern von Recht", sagt Venedey. Sein Mandant habe in Notwehr oder Nothilfe gehandelt.

Das ganze Geschehen der Schussabgabe habe sich in 30 Sekunden abgespielt. In dieser Zeit habe der Geschädigte, Dennis J., mit dem Jaguar "unzweifelhaft" drei Fahrmanöver gemacht: vorwärts gegen ein Mäuerchen, rückwärts in einen Erker, wieder vorwärts. Die Zivilfahnder habe J. dabei "in eine lebensgefährdende Situation" gebracht. Dass der erste Schuss der tödliche war, wie die Anklage meint, sei nicht erwiesen, so Venedey. "Eine Reihe von objektiven Spuren" spreche dagegen. Auch die Gutachter seien sich in der Frage uneins.

Berlins Polizeipräsident Dieter Glietsch gab nach dem Vorfall zu Protokoll, es sei Sache der Staatsanwaltschaft und Gerichte, den Vorfall zu bewerten. "Aber auch die am besten trainierten Mitarbeiter können in Situationen geraten, in denen sie falsch reagieren." In Glietschs Behörde gibt es Mitarbeiter, die deutlicher werden. Immerhin gilt R. als Spezialist für Festnahmen. "Man wird das Gefühl nicht los, dass da ein Kollege vor lauter Jagdeifer übers Ziel hinausgeschossen ist", sagt ein Beamter. "Nicht auszudenken wäre, wenn er eine offene Rechnung beglichen hätte."

Nicht nur bei der Polizei, auch in Schönfließ gehen die Meinungen über den Tod des jungen Autoknackers auseinander. "Hier ist es so wie überall in der Welt", erzählt eine Anwohnerin, die vor ihrem Haus im Liegestuhl in der Sonne liegt. "Es gibt Leute, die sagen: Richtig so. Den Kriminellen muss man es zeigen." Andere, zu denen sich die Anwohnerin zählt, seien überzeugt: "Das war absolut unverhältnismäßig." Auch als Mutter eines Sohnes, der unwesentlich jünger als der Getötete ist, wünsche sie sich, dass der Polizist eine gerechte Strafe bekomme. "Aber die Erfahrung ist ja wohl die, dass bei solchen Prozessen am Ende nichts herauskommt."

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