die wahrheit: Gekreuzte Stinkefinger

Neue Einblicke in das Leben und Sterben von Rockern und anderen Dorfinsassen im wilden Niedersachsen.

Ein Sarg geht durch viele Hände, da sind Fehler immer möglich. Bild: reuters

An einem erstaunlich warmen Frühlingsabend schlüpfte Jasper Schmitz, der Ehrenpräsident der lokal berüchtigten Bikerorganisation Hellraisers e.V., der als greiser Leadgitarrist der Hardrock-Covertruppe The Drunken Piranhas ebenfalls eine gewisse, wenn auch eher dubiose Berühmtheit erlangt hatte, in seine Motorradbotten und warf sich die Lederjacke über, um zum Dämmerschoppen ins Clubhaus zu wanken.

"Schmitz, die alte Haubitze, fühlte sich nicht", gab später Manne Hartmann zu Protokoll, der an jenem Abend für den Ausschank verantwortliche Hellraiser. Er habe ihm scherzhaft geraten, heute mal etwas kürzer zu treten und bei seiner Standarderöffnung, Wodka-Orangensaft, ausnahmsweise den O-Saft wegzulassen. Schmitz jedoch habe darauf nichts erwidert oder nach ihm geworfen, was ihm im Nachhinein schon etwas merkwürdig vorgekommen sei, stattdessen ganz vorsichtig den Ellenbogen auf den Tresen gelehnt und die Stirn in die Armbeuge gebettet.

"Ich dachte, der pennt", verteidigte sich Hartmann beim anschließenden außerordentlichen Kameradschaftsabend, "deshalb habe ich mich nicht weiter darum gekümmert. Wer kann denn ahnen, dass der mir hier einfach abnippelt? 65 ist doch kein Alter. Gut, er sah älter aus, aber sehen wir das nicht alle." Damit hatte Hartmann die Lacher der anwesenden Biker auf seiner Seite.

Etwa zur gleichen Zeit an diesem schicksalhaften Maiabend verabschiedete sich der jüngst pensionierte Landwirt Henning Schnellenhinze von seiner Frau Christa, um zum wöchentlichen Übungsabend der von ihm geleiteten Freiwilligen Feuerwehrkapelle Nordsteimke aufzubrechen. Schnellenhinze schloss den paar bereits auf ihn wartenden Mitspielern das Spritzenhaus auf, verfügte sich mit ihnen in den Gemeinschaftsraum im hinteren Teil des Gebäudes, packte seine goldschimmernde Trompete aus und schmetterte ein paar nassforsche "Halalis", wie er es immer tat, um sich warmzuspielen.

Aber dann griff er sich plötzlich ans Herz, stieß erschrocken sein Instrument von sich und gegen die Vitrine mit den Trophäen aus vergangenen Jugendfeuerwehrwettkämpfen, aber seine Kraft reichte schon nicht mehr, das Glas zu zerschmettern. Er schlug lang hin, schimpfte noch einmal "Auch das noch!" und verschied dann mit einem grimmen Zug um den Mund.

Sein Ärger war berechtigt. In wenigen Wochen hätten Schnellenhinzes ihre Goldene Hochzeit gefeiert, und er hatte sich bereits, eigens dafür, einen neuen schwarzen Anzug zugelegt. Den brauchte er ja nun nicht mehr.

Das lokale Beerdigungsinstitut, vulgo: die Dorftischlerei Fricke, hatte in den letzten Wochen alle Hände voll zu tun gehabt und deshalb einen Gastarbeiter osteuropäischer Herkunft halblegal beschäftigen müssen, um die vielen Verblichenen mit Anstand unter die Erde zu bekommen. Auch auf dem platten niedersächsischen Land hatte der seit Monaten bundesweit eskalierende Rockerkrieg seine Opfer gefordert. Und für die übrigen Dorfbewohner von Nordsteimke, die in letzter Zeit wie die Fliegen umgekippt waren, galt Frickes bewährtes Lebensmotto, das er wenigstens fünfmal am Tag zum Besten gab: "Gestorben wird immer!"

Der neue Bestattergeselle Dragomir sprach nur wenig Deutsch, aber bei seiner Tätigkeit waren kommunikative Fähigkeiten sowieso nicht gefragt. Gerade hatte er seine erste Tour zum Vereinsheim der Hellraisers hinter sich gebracht, da wurde er von seinem Chef noch einmal zur Feuerwehr geschickt, um auch die zweite Leiche heimzuholen ins betriebseigene Kühlhaus.

Und da lagen sie nun nebeneinander, im Tode friedlich vereint, die sich im Leben nicht gegrüßt, ja, nicht mit dem Arsch angeguckt, nur einmal auf dem Schützenfest vorm Zelt wegen einer Tanzrempelei ihre Kräfte gemessen hatten. Ein langer dreckiger Fight war das gewesen, der mit einem veritablen Pyrrhussieg Schnellenhinzes geendet hatte, denn auch er musste sich anschließend einen Termin beim Kiefernorthopäden geben lassen. Und noch zwei weitere zur Nachsorge.

Aber dieses friedvolle, wenn auch kühle Beisammensein der beiden einstigen Kontrahenten währte nicht lange. Unvermeidlich nahte die Beerdigung. Tischler Fricke bekam seine Instruktionen und diverse Utensilien von beiden Trauerhäusern ausgehändigt, um die Toten auf ihre ganz spezielle Weise standesgemäß zur letzten Ruhe zu betten. Die Witwe Schnellenhinze brachte sogar persönlich den neuen, noch ganz ungetragenen schwarzen Anzug ihres Gatten vorbei. Darin habe ihr Henning so was von schneidig ausgesehen, ließ sie verlauten, glatt zehn Jahre jünger.

Zunächst aber war Jasper Schmitz an der Reihe. Der Hellraisers e.V. und die Drunken Piranhas kamen vollzählig zum Trauergottesdienst in die Friedhofskapelle, um ihrem ehemaligen Ehrenpräsidenten und Leadgitarristen den letzten Gruß zu entbieten. Und auch wenn es ihnen ein wenig am Respekt vor der Würde des Ortes ermangelte, wurde es dann doch noch ganz stimmungsvoll, als Manne Hartmann, der "Mundschenk des Teufels", wie man ihn jetzt nannte, nach vorn ans Grab trat mit einem Ghettoblaster auf den Schultern und Motörheads Fassung der alten ZZ-Top-Schnulze "Beerdrinkers and Hellraisers" abspielte.

Am folgenden Tag sollte nun Henning Schnellenhinze beigesetzt werden. Und Christa fuhr schon früh am Morgen zum Bestatter, um sich von ihrem Mann in aller Form zu verabschieden. Dragomir war gerade dabei, den Vorplatz zu fegen, als Tischler Fricke und die Witwe Schnellenhinze, der eine schnaufend vor Wut, die andere in Tränen aufgelöst, auf ihn zueilten und ihm lautstark Vorhaltungen machten. Er verstand kein Wort, aber dass es ihnen ernst war, merkte er dennoch.

Und so ging er noch einmal in Gedanken die abgearbeitete Liste durch: Er hatte den alten Spießer in die verratzte Biker-Montur gezwängt, die Flasche Smirnoff und ein Tetrapak O-Saft ans Fußende drapiert und ihm eine cremeweiße Fender Stratocaster an die Seite gelehnt. Besonders schwer war es ihm gefallen, dem erstarrten Mann die Arme vor der Brust zu kreuzen, wie es der Chef ausdrücklich verlangt hatte, und die Hände zu Fäusten zu ballen, aus denen jeweils ein steiler Stinkefinger herausragte. Nein, er, Dragomir, hatte dieses Mal wirklich an alles gedacht.

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