Schulreform in Hamburg: Es geht um die Kinder

Sollen Kinder länger gemeinsam lernen? Darüber stimmt Hamburg am Sonntag ab. Die Migrantenvereine sind für die Primarschule, aber es gilt: Kein deutscher Pass, kein Stimmrecht.

Einwandererfreundliches Schulsystem oder nicht? Hamburg darf sich entscheiden. Bild: dpa

HAMBURG taz | Treffpunkt ist der Jenischpark. Kinder spielen Ball, dahinter ein fantastischer Fernblick auf das andere Elbufer. Nicola Byok kommt mit dem Rad. "Ich weiß, ich entspreche voll dem Klischee", sagt sie. "Ich wohne hier in Klein Flottbek, hab Jura studiert und war sogar in Yale." Das Bild vom "Gucci-Protest", das manche Medien über die Gegner der Primarschulreform zeichnen, "dass wir nur an unsere eigenen Kinder denken und unsere Privilegien retten wollen", sei aber falsch.

Doch nicht in den Nobelvierteln, sondern in weniger gut betuchten Gebieten wie Billstedt und Steilhoop habe sie für Zustimmung beim Volksentscheid geworben. "Ich dachte, die lynchen mich. Aber die wussten noch viel besser als ich zu begründen, warum sie gegen diese Schulreform sind".

Die Mutter von zwei Schulkindern ist Mitstreiterin von "Wir wollen lernen"-Gründer Walter Scheuerl. Was sie stört? Sie nennt zuerst die hohen Baukosten, die für die Primarschule nötig seien. Da werde Geld, "in Beton gegossen" statt in Sprachförderung für Migranten und in Ganztagsschulen für Kinder, "um die sich sonst keiner kümmert". Die Juristin hat Vorträge gehalten. Neulich war sie auf dem Podium bei einer Diskussion in einer Gesamtschule. "Kein schönes Erlebnis, wenn Sie 200 Personen hasserfüllt angucken".

In Hamburg sollen in der Primarschule alle Kinder gemeinsam bis zur 6. Klasse lernen. Das ist das zentrale Projekt der schwarz-grünen Koalition. Danach gehen Kinder aufs Gymnasium oder auf die Stadtteilschule. Die Initiative "Wir wollen lernen" hat 2009 für die Erhaltung der Gymnasien ab der fünften Klasse 185.000 Unterschriften gesammelt. Schwarz-Grün verhandelte mit der Initiative über einen Kompromiss - ergebnislos. Am Sonntag sollen die Hamburger abstimmen. Stimmen mehr als 247.000 dagegen und ist dies die Mehrheit, wird die Reform gestoppt. Erwartet wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen.

Heftige Emotionen gibt es auf beiden Seiten im Streit darüber, ob Hamburgs Kinder zwei Jahre länger gemeinsam lernen sollen. "Unser einziges Kind hat in diesen Wochen ihr bilinguales Abitur bestanden (dt. Abitur + frz. Baccalauréat)", schreibt ein Ehepaar aus Othmarschen in einer Anzeigenserie auf dem Titel des Hamburger Abendblatts und bittet, gegen die Reform zu stimmen. Denn ein solches doppeltes Abitur sei mit der Primarschule nicht möglich. Die Kosten für ersparten "mehrjährigen Internatsaufenthalt" investiert das Ehepaar in die Annoncen.

Mülayim Hüseyin ist 48 Jahre alt und Anwalt für Aufenthaltsfragen in Hamburg. Seine Klienten haben andere Sorgen als ein Doppelabitur. Fast jedes zweite Grundschulkind hat in Hamburg Migrationshintergrund, und sie sind weit überproportional an Sonderschulen und wenig an Gymnasien vertreten. "Das Problem - die Bildungssprache hier ist Deutsch. Und das ist nicht die Muttersprache dieser Kinder", sagt der Vater von zwei Kindern.

Alle Migranten seien sehr an der Bildung ihrer Kinder interessiert. "Wir haben keine Millionen, die wir vererben können." Hüseyin sitzt an seinem Schreibtisch und zeichnet eine Zeitachse. Sprache lernen beginne im Mutterleib, in den meisten Familien werde nicht Deutsch gesprochen. "Wenn ein türkisches Kind erst mit drei Jahren in die Kita kommt, kann es gut Türkisch, aber nicht die Bildungssprache." Dies sei ein ungleicher Wettbewerb.

Kein Pass, kein Stimmrecht

"Dieses Wettrennen bis zum Ende der 4. Klasse aufzuholen, wo die Selektion beginnt, ist quasi unmöglich." Dann werden die Migrantenkinder von jenen Kindern, von denen sie die deutsche Sprache lernen könnten, getrennt. Deshalb kämpfen in Hamburg alle Migrantenvereine für sechs Jahre Primarschule. Doch beim Volksentscheid gilt: kein deutscher Pass, kein Stimmrecht. Den Entscheid machen die Deutschen unter sich aus.

Jörg Ahlers ist 43 Jahre alt, er wohnt in Hamburg Langenhorn, hat drei Kinder und leitet einen Getränkehandel. Schon der Ring im Ohr passt nicht zum Bild eines Mitstreiters von "Wir wollen lernen". "Da, wo es wirklich brennt, greift die Reform nicht an", sagt er. "Das Problem sind Eltern, die sich nicht um ihre Kinder kümmern." Er wohne auf der "nicht so schönen Seite" seines Stadtteils. Es regt ihn auf, dass sein Nachbar zur Fußball-WM einen Fernseher kauft, dessen Kinder aber keine ordentlichen Schuhe tragen. Und es stören ihn Frauen auf dem Spielplatz, die mit Kopftüchern verhüllt sind und deren Kinder unter sich bleiben.

"Zeit ist wichtig", sagt Ahlers, der in der CDU ist. Das Geld müsse in Ganztagsschulen fließen und in die Reparatur von Gebäuden. "Bei meiner Tochter in der Schule leckt es durchs Dach." Sie komme jetzt in die 5. Klasse einer Gesamtschule, eine "Sportklasse", in der auch der Leistungsgedanke zähle, und er hofft, dass er dort auf andere Eltern trifft, "die sich für ihre Kinder interessieren", nicht jene, die nur meckern "Scheißschule, Scheißlehrer".

Hannes Classen, Jahrgang 1952, ist Erziehungsberater und wohnt im alternativen Ottensen. Er gehört zu jenem "postmateriellem Milieu", von dem die Hamburger Lehrerzeitung schrieb, dass es klar "gegen das gegliederte Schulwesen Position bezieht". Classen kennt dieses Systems, den Stress, den die frühe Aufteilung für Kinder und Eltern bedeuten. "Ein Junge kam zu mir in die Beratung, der ein stabiles Elternhaus hatte, aber in der Schule auffällig wurde", berichtet er. Der Elfjährige besuchte die 6. Klasse einer Haupt- und Realschule. "Es kam heraus, dass die Atmosphäre in der Klasse sehr gereizt ist, weil ein Drittel der Schüler sich bereits völlig aufgegeben hatte." Sogenannte negative Lernmilieus entstünden, wenn man Kinder früh trenne.

Auch Nicola Byok kennt den Begriff. Sie zweifelt aber, dass die individuelle Förderung der Kinder gelänge, ließe man sie bis zur 6. Klasse zusammen. "Was mich stört, ist, dass die Schüler, die etwas besser sind, dafür ,verhaftet' werden, dass sie die schwächeren mitziehen." Negative Lernmilieus seien ein Problem, das die Schule lösen müsse, "nicht die, die auf andere Schulen gehen".

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