Aufklärung: Brüder ohne Hüter

Nach den Missbrauchsfällen in Ahrensburg ermittelt das Kirchenamt in Kiel. Ein Zwischenbericht wird dieser Tage erwartet. Doch ob er der Wahrheitsfindung dient, wird von den Opfern bezweifelt.

1997 kämpfte die Nordelbische Kirche für den Buß- und Bettag. Jetzt muss sie selber Buße tun. Bild: dpa

Der Tatort liegt in einer ruhigen Seitenstraße. Es ist ein Einfamilienhaus wie die Häuser daneben auch, der Garten ist etwas verwildert, findet Sebastian Kohn. "Das hatte ich früher besser im Griff", sagt er und versucht ein Lachen. In diesem Haus hat er früher gewohnt, mit seiner Mutter und seinen Brüdern. Und mit Pastor Dieter K., seinem Stiefvater, der ihn und zwei seiner Brüder missbraucht hat. "Dieses Haus bedeutet mir nichts mehr", sagt Sebastian Kohn, er fährt weiter.

Seit die Geschichte öffentlich ist, führt er fast täglich Besucher durch den Ahrensburger Ortsteil Am Hagen, in dem sich alles abgespielt hat. Kohn war damals Jugendlicher, die Einfamilienhäuser, sagt er, lagen hinter hohen Buchenhecken, keiner sollte hineinsehen. "In diese kleine Welt passt doch kein Skandal rein", sagt er.

Kirchenamt ermittelt

1999 wird bekannt, dass Pastor Dieter K. in Ahrensburg Jugendliche sexuell missbraucht hat, darunter drei seiner Stiefsöhne.

Die offizielle Sprachregelung lautet, K. habe "außereheliche Verhältnisse mit jungen Frauen".

Als Konsequenz wird Pastor K. in den Jugendstrafvollzug versetzt, wo er weiter mit Jugendlichen in Kontakt kommt. Ein Disziplinarverfahren bleibt aus, im zuständigen Kirchenamt existieren keine Akten über den Fall.

Im März 2010 wendet sich ein Opfer mit einem Brief an die Kirchenleitung, die lässt intern ermitteln. Die Kirchengemeinde Ahrensburg erfährt nichts davon.

Im Mai 2010 berichtet das Hamburger Abendblatt über die Geschichte, der Spiegel folgt.

Nach Vorwürfen, sie habe nicht energisch genug Aufklärung betrieben, tritt die Hamburger Bischöfin Maria Jepsen am 16. Juli zurück.

Derzeit ermittelt das Kirchenamt der Nordelbischen Kirche in Kiel, wie es möglich war, dass Pastor K. jahrelang Mitglieder seiner Jugendgruppe und drei seiner Stiefsöhne missbraucht hat, obwohl zumindest sein Kollege, Pastor H., davon wusste. Wie es möglich war, dass die Vorgesetzte von Pastor K., Pröpstin Heide Emse, zwar schließlich für seine Versetzung sorgte, es jedoch nie zu einem Disziplinarverfahren kam und im Kirchenamt auch keine Akten zu dem Vorfall angelegt wurden.

Ein Zwischenbericht zu den Ermittlungen soll Mittwoch oder Donnerstag erscheinen, doch viel Hoffnung auf weitere Aufklärung macht der Pressesprecher der Nordelbischen Kirche, Thomas Kärst, nicht. "Es wird nicht viel anderes herauskommen als das, was schon bekannt ist", sagt er. Bekannt ist, dass viele Bescheid wussten, aber nichts sagten, aus welchen Gründen auch immer. K.s Kollege Pastor H., in Ahrensburg lange ein hoch angesehener Mann, hat gegenüber der Zeit gesagt, dass Jugendliche vor einem Weihnachtsgottesdienst Zettel verteilen wollten, auf denen sie die Vorwürfe gegen Pastor K. aufschreiben wollten. Er habe ihnen abgeraten, um den Leuten nicht "das Weihnachtsfest zu verhageln". Inzwischen läuft gegen Pastor H. selbst ein kirchliches Disziplinarverfahren. Zwei Frauen, die damals in seiner Jugendgruppe waren, haben ihn wegen sexuellen Missbrauchs angezeigt. Pastor H. sei in Ahrensburg "wie ein Gott, gegen den lehnt man sich nicht auf", sagt Sebastian Kohn. Er selbst hat nur selten die Kirche besucht, er hatte seinen Pastor ja im Haus. Einmal, sagt er, sei er in einem Weihnachtsgottesdienst gewesen, und sein Stiefvater habe gepredigt. "Ich dachte: der lügt, lügt, lügt."

In Sebastian Kohns kleinem Auto liegen die Zigaretten griffbereit, während er die Stationen seiner Kindheit abfährt. Der Kirchsaal am Hagen verströmt backsteinerne Nüchternheit, hier hat sich die Jugendgruppe versammelt, die sein Stiefvater leitete. Kohn war nur auf der Ausfahrt ins Elsass dabei, damals habe ihn Dieter K. zum ersten Mal missbraucht. Es dauerte Jahre, bis der Junge die Kraft findet, sich zu wehren. Lange beamte er sich aus seinem Körper weg. Viel später, beim mündlichen Examen im Studium, kam das wieder, er sah sich von außen, wusste nichts mehr. Obwohl er sonst gute Noten hatte, fiel er zweimal durch die Prüfungen. "Dann kamen die Kinder, das war dann gut", sagt er.

Sebastian Kohn ist jetzt 42, wenn man ihn fragt, was er macht, sagt er: "Ich bin krankgeschrieben." Derzeit nimmt er Antidepressiva, "das volle Programm", sonst ginge es nicht. Von den fünf Kohn-Brüdern sind die anderen beiden, die auch Opfer des Stiefvater wurden, gestorben, die zwei anderen gingen nach Hamburg und Berlin. Sebastian ist der einzige, der noch in Ahrensburg lebt, er sagt, es sei wegen der Kinder.

Immerhin ist er jetzt auf die andere Seite gezogen, nach Ahrensburg City, in die Nähe von Schloss und Schlosskirche, weit weg von der Siedlung Am Hagen, die jenseits der Bahnlinie liegt und immer schon eine Welt für sich war. In Ahrensburg gab es ein Gymnasium und Jugendhäuser, und in der Kirche herrschte Aufbruchsstimmung. Am Hagen gab es den Sportverein und den Kirchsaal, und dort herrschten die Pastoren K. und H.

An ein Entkommen war nicht zu denken, sagt Kohn. Seine Familie sei ein "Sozialfall" gewesen, dreieinhalb Jahre habe die Mutter allein gelebt. "Und dann kam so ein Pastor, der Geld hatte, in unseren Augen, und wo es an nichts gemangelt hat." Bei dem Pastor, der inzwischen 72 ist, war vergangene Woche das Jugendamt, es hat seine 28-jährige Frau und den sechsjährigen Sohn herausgeholt, das immerhin. Sebastian Kohn hilft das nicht viel. Er ist wütend, nicht so sehr auf seinen ehemaligen Peiniger, "der ist krank", sondern auf die Kirche. Warum, fragt er, hat die damalige Pröpstin nicht mehr unternommen? Wie konnte es sein, dass die Missbrauchsgeschichte in der Kirchenbürokratie versackte? Und wie kann dieselbe Kirchenbehörde jetzt für sich in Anspruch nehmen, die Vorfälle aufklären zu wollen?

Die derzeitige Pröpstin des Kirchenbezirks, Margit Baumgarten, sei bei den sechs Treffen der von der Kirche eingerichteten Missbrauchs-Gruppe genau ein Mal erscheinen, sagt Kohn. Dabei habe Bischof Ulrich sie noch gelobt wegen ihres Engagements. Zwei Mitglieder des Opfervereins "Missbrauch in Ahrensburg" hätten in den vergangenen Wochen versucht, sich umzubringen, sagt Kohn. Zur Verzweiflung habe sie nicht der Missbrauch getrieben, sondern die Art, wie die Kirche damit umgehe.

Gemeinde zerstritten

Die Kirchengemeinde Ahrensburg ist nach den Vorfällen tief zerstritten. Der derzeitige Vorsitzende des Kirchenvorstands, Schlosskirchen-Pastor Helgo Matthias Haak, hat den Pastoren K. und H. nach Bekanntwerden der Vorwürfe alle pastoralen Tätigkeiten in Ahrensburg untersagt. Pastor H. hält seitdem seinen in der Gemeinde geschätzten Gesprächskreis in seinen Privaträumen ab, und Haak wurde selbst zum Ziel von Angriffen: Wie es sein könne, dass er, der seit 1992 in Ahrensburg an der Schlosskirche ist, von den Missbrauchs-Gerüchten in der Nachbargemeinde Am Hagen nichts mitbekommen habe?

"Als ich kam, waren die Gemeinden noch getrennt, da drang nichts durch", sagt Haak dazu. Zu den Vorfällen durfte er sich bis gestern Nachmittag nicht äußern, das Kirchenamt hatte ihm ein Redeverbot erteilt, bis die Ermittlungen beendet sind.

"Herr Haak hat das Pech, dass er der Kirchenvorstands-Vorsitzende ist", sagt Pastorin Anja Botta, die Nachfolgerin von Pastor H. im Kirchsaal Hagen, zu den Angriffen. Dabei seien sich alle Pastoren einig gewesen, gegen die beiden Amtsbrüder vorzugehen, und auch im Kirchenvorstand habe es eine "große Mehrheit" gegeben.

Botta diagnostiziert in der Gemeinde "Wut, Enttäuschung und Abwehrreaktionen". "Die Leute haben den beiden über Jahrzehnte vertraut", sagt sie. Sie hätten bei ihnen geheiratet, hätten ihre Kinder konfirmieren lassen. Pastor K., so hört man, soll ein begabter Begräbnisredner gewesen sein. Als 2006 die Frau von Pastor Haak starb, hielt er die Ansprache. Inzwischen hat Haak den Kontakt abgebrochen. Leicht ist das nicht: die beiden sind Nachbarn.

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