Grausam entstellte Leichen: Hat die Türkei C-Waffen eingesetzt?

Der taz liegen Bilder von entstellten PKK-Kämpfern vor: Experten schließen eine Fälschung aus. Menschenrechtler werfen der Türkei vor, chemische Waffen eingesetzt zu haben.

Der türkische Ministerpräsident Erdogan und der Generalstabschef Ilker Basbug (hinten) im Juni 2010 beim Truppenbesuch in der Provinz Hakkari. Bild: dpa

Die Fotos zeigen grauenhaft entstellte, schwer deformierte Leichen in offenen gelben Plastiksäcken. Die Gliedmaßen sind zerfetzt, grobe Nähte halten die Körper zusammen. Es sind Bilder, die man nicht in einer Zeitung oder im Netz abgebildet sehen möchte. Und sie dokumentieren möglicherweise ein Kriegsverbrechen der türkischen Armee.

Türkisch-kurdische Menschenrechtler hatten die 31 Bilder zugespielt bekommen. Im März übergaben sie sie Teilnehmern einer Delegation aus Türkei-Experten, Abgeordneten, Mitarbeitern der Vereinigung Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs und der taz.

Die Bilder zeigen vier von insgesamt acht toten PKK-Kämpferinnen und Kämpfern im Alter zwischen 19 und 33 Jahren; zwei Frauen und sechs Männer. Der Zustand der Leichen weckte bei den Kurden den Verdacht, dass die türkische Armee chemische Kampfstoffe gegen sie eingesetzt haben könnte. Wäre das wahr, hätte die Türkei gegen die von ihr ratifizierte UN-Chemiewaffenkonvention verstoßen, die den Einsatz solcher Waffen verbietet.

Die PKK-Kämpfer sollen im September 2009 nahe der Stadt Cukurca ums Leben gekommen sein. Das Gebiet ist eine Hochburg der kurdischen Guerilla. Nach ihren Angaben hat diese derzeit 7.000 bewaffnete Kämpferinnen und Kämpfer, immer wieder stoßen PKK-Einheiten aus Nordirak in diese Region vor.

Am 8. September meldete der türkische Generalstab, dass in Cukurca ein türkischer Soldat von der PKK getötet worden war. Die Militärführung schickte Hubschrauber, Einheiten der Armee rückten aus, um die Rebellen zu jagen. Solche Vorfälle sind keine Seltenheit in der Gegend, die seit dem Ausbruch der Kämpfe Mitte der Achtzigerjahre nie richtig zur Ruhe gekommen ist.

Den Menschenrechtlern zufolge hat ein Bewohner der Region den Zusammenstoß beobachtet. Die acht Kämpfer hätten sich in einer Höhle vor der herannahenden Armee versteckt. Die habe sie dort aufgespürt und ein größeres Geschoss in die Höhle gefeuert. Nach einer Wartezeit hätten Soldaten die leblosen Körper aus der Höhle geholt, auf sie geschossen und einige der Körper mit Panzerfahrzeugen überrollt.

In den letzten Wochen hat das rechtsmedizinische Institut der Uniklinik Hamburg-Eppendorf im Auftrag der taz die Bilder untersucht. Zwar besitzen solche Fotos nur einen sehr begrenzten Beweiswert. Doch die Ergebnisse des Eppendorfer Forensikers Jan Sperhake stützen die kurdische Darstellung: Eine der Leichen wies "hochgradige Zerstörungen" auf, wie sie an "den Zustand nach Bahnüberfahrungen erinnern", schreibt Sperhake. Teils quellen Leber, Darmschlingen und andere Organe aus den Körpern, die Muskulatur liege teils großflächig frei, Gliedmaßen seien enorm zerstört. Neben vermutlichen Stich- und Schussverletzungen weisen die Toten auch Verletzungen auf, die auf eine Explosion zurückgehen könnten.

Vor allem aber zeigen zwei der abgebildeten Leichen eigentümliche großflächige Hautdefekte. So etwas kann theoretisch auch durch Hitze entstehen. Doch dies schließt Sperhake weitgehend aus: Kopfhaare, Lider, Brauen und Bart wiesen, soweit beurteilbar, keine Hitzeeinwirkungen auf. Sein Fazit: "Angesichts des Zustands der Leichen muss deshalb in Betracht gezogen werden, dass chemische Substanzen eingesetzt worden sein könnten."

Vorwurf zurückgewiesen

Um eine bloße Fälschung handelt es sich offenbar nicht. "Es gibt keinerlei Hinweise auf eine Manipulation", sagt der Bildfälschungsexperte Hans Baumann, der die Aufnahmen ebenfalls begutachtete. "Die Bilder sind in sich vollständig konsistent. In dieser Form ist das praktisch nicht fälschbar", sagt Baumann, der das Bildbearbeitungs-Fachmagazin Docma herausgibt.

Die türkische Regierung weist den Verdacht des Chemiewaffeneinsatzes zurück. Bei der PKK handele es sich um eine Terrororganisation, weshalb die Türkei ihren "multidimensionalen Kampf gegen sie entschieden fortsetzt", erklärte das Außenministerium auf eine Anfrage der taz. Doch die Türkei sei Unterzeichnerstaat der Chemiewaffenkonvention, weshalb sich im Inventar ihrer Streitkräfte keine biologischen oder chemischen Waffen befänden. Die Leichen seien nach einer Obduktion freigegeben und an Familien, Freunde oder "Sympathisanten der Terrororganisation" übergeben worden. Warum und mit welchem Ergebnis sie obduziert wurden und wie sie zu Tode kamen, dazu verweigerte die Türkei Angaben.

Immer wieder erheben kurdische Organisationen den Vorwurf, die türkische Armee würde nicht nur die Leichen toter Guerillas schänden, sondern auch chemische Waffen einsetzen - so, wie es Saddam Hussein 1988 beim Massaker von Halabdscha im Nordirak getan hat. Damals starben bis zu 5.000 Kurdinnen und Kurden qualvoll, mutmaßlich an einer Mischung aus Senfgas und Sarin. Doch dass auch die Türkei Chemiewaffen einsetzt, konnte nie bewiesen werden. Eine unabhängige Untersuchung ließ die Türkei aber auch nie zu.

Während die von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan im Sommer vorigen Jahres großspurig angekündigte Initiative zur friedlichen Lösung des Konflikts ohne vorzeigbare Resultate versandete, wurde im Dezember 2009 die prokurdische DTP vom Verfassungsgericht verboten. Weit über tausend Anhänger, Kommunalpolitiker und Funktionäre der Partei, die viele als politischen Arm der PKK betrachten und die im Südosten die weitaus meisten Bürgermeisterämter innehatte, wurden verhaftet. Viele sitzen bis heute im Gefängnis. Die PKK erklärte daraufhin, sich "wieder zum Krieg gezwungen" zu sehen, und kündigte ihren einseitig erklärten Waffenstillstand wieder auf. Seitdem ist der Konflikt eskaliert, allein im vergangenen Monat starben dabei auf beiden Seiten über 50 Menschen.

Doch militärisch kann die PKK den Türken nicht mehr als Nadelstiche versetzen - so wie am Dienstag, als mutmaßliche PKK-Kämpfer einen Bombenanschlag auf eine Ölpipeline in der südöstlichen Provinz Sirnak verübten. Zwei Menschen kamen dabei ums Leben, der Betrieb der Pipeline, über die ein Viertel der irakischen Ölexporte transportiert wurden, wurde eingestellt. Tags darauf meldeten mehrere linke und linksliberale türkische Tageszeitungen übereinstimmend, dass die PKK am Donnerstag eine neue Waffenruhe verkünden werde.

Neue Bilder aufgetaucht

So oder so: Siege im Kampf um die öffentliche Meinung sind für die Rebellen immens wichtig. "Die propagandistische Behauptung, dass der Gegner B- oder C-Waffen einsetzt, gibt es in fast jedem Krieg", sagt Jan van Aken, einst UN-Biowaffeninspekteur und nun Bundestagsabgeordneter der Linken. "Manchmal ist das aber auch wahr. Das nachzuweisen ist jedoch extrem schwierig."

Van Aken war im März bei der Delegation dabei, die zur Beobachtung des kurdischen Neujahrsfests Newroz in die Türkei gereist war. Er beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Einsatz geächteter Kampfstoffe. Im Jahr 2003 deckte der frühere Greenpeace-Aktivist ein geheimes Chemiewaffenprogramm der USA auf.

Im Jahr darauf verfasste er mit weiteren Abrüstungsexperten einen Bericht zur Frage der Nutzung von B- und C-Waffen durch die Türkei. Dabei stieß er auf eine Direktive des damaligen türkischen Armeechefs Necdet Öztorun.

An zwei Stellen steht dort, dass "giftiges Gas" und "giftige Insekten" eingesetzt werden können, um Stellungen der PKK anzugreifen. Die Authentizität des Dokuments ist nicht bewiesen. Doch Öztorun, der später an eine Universität gewechselt ist, hat nie auf Anfragen hierzu geantwortet, ebenso wenig, wie die Türkei die Existenz dieser Direktive je offiziell dementiert hat.

Für van Aken ergeben die jetzt aufgetauchten Fotos einen "starken Anfangsverdacht". Dass der rechtsmedizinische Befund den Augenzeugenbericht stütze, gebe diesem eine "gewisse Glaubwürdigkeit", sagt er. Zusammen mit den übrigen Indizien sei dies "mehr, als ich bisher in allen anderen vergleichbaren Fällen gesehen habe".

Der Linken-Bundestagsabgeordnete und Fraktionskollege van Akens, Andrej Hunko, will, dass das Auswärtige Amt die Türkei wegen des möglichen Massakers von Cukurca im Exekutivrat der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) in Den Haag anzeigt. Die OPCW überwacht für die Vereinten Nationen die Einhaltung der Chemiewaffenkonvention. Die Leitung der OPCW übernahm in diesen Tagen ein Türke: Der Diplomat Ahmet Üzümcü, der die Türkei zuvor bei der UN in Genf vertreten hatte.

"Wir haben mit den zuständigen Beamten im Auswärtigen Amt gesprochen, nachdem wir die Fotos bekommen haben", sagt Hunko. Doch dort habe man ihm gesagt, dass man es für "sehr unwahrscheinlich" halte, dass die Türkei chemische Kampfstoffe einsetzt. Das Ministerium streitet sogar ab, dass das Gespräch mit Hunko überhaupt stattgefunden hat.

"Von einer solchen Initiative des Bundestagsabgeordneten Hunko ist uns nichts bekannt", sagt ein Sprecher des Amtes. Doch sei es ihm unbenommen, die OPCW direkt auf den möglichen Vertragsbruch der Türkei aufmerksam zu machen. "Solange das nicht über den Exekutivrat läuft, kann er das als Privatperson auch ohne uns tun."

Kurz bevor Außenminister Guido Westerwelle (FDP) Ende Juli zu seiner Türkeireise aufbrach, bestätigte ein Sprecher seines Ministeriums der taz, dass man diese Vorwürfe wahrgenommen habe und der Minister "natürlich" auch den Kurdenkonflikt ansprechen werde. Zu der Frage, ob und in welcher Weise dies geschehen ist, schweigt das Ministerium bis heute.

Dafür tauchten noch während Westerwelles Aufenthalt in der Türkei neue Fotos auf. Erneut wurden kurdischen Organisationen eine Reihe von Bildern zugespielt, die auch der taz vorliegen. Sie zeigen ebenfalls mehrere furchtbar entstellte Leichen, diesmal auf stählernen Obduktionstischen. Es soll sich um sechs weitere PKKler handeln, die in den letzten Wochen bei den Kämpfen in der Region Sirnak getötet wurden. Auch diese Bilder werden zur Begutachtung der Hamburger Uniklinik übergeben.

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