: „Juschtschenko macht zu viele Kompromisse“
Die Ukraine steht ein Jahr nach der orangenen Revolution besser da als zuvor, sagt der Kiewer Journalist Mykola Rjabtschuk. Die politische Bilanz des Präsidenten und Revolutionshelden Wiktor Juschtschenko ist allerdings gemischt
taz: Herr Rjabtschuk, wie steht die Ukraine ein Jahr nach der orangenen Revolution da?
Mykola Rjabtschuk: Die Ukraine hat sich eher nach vorn als zurück bewegt. Wir haben politische Freiheiten errungen, allem voran Pressefreiheit. Die Wirtschaftspolitik war zwar nicht so erfolgreich, aber auch keine Katastrophe. Zwar hat sich das Wirtschaftswachstum verlangsamt und liegt jetzt bei vier Prozent. Doch das ist jetzt ein reales Wachstum, das die Menschen spüren. Die Finanz- und Steuerdisziplin hat sich verbessert. Eine weitere Errungenschaft der Regierung Julia Timoschenkos ist, dass sie die Regeln für kleine und mittelständische Unternehmen vereinfacht hat.
Was sind die größten Fehler, die Präsident Wiktor Juschtschenko im vergangenen Jahr gemacht hat?
Er ist zu viele Kompromisse eingegangen. Aber das ist seine Persönlichkeit, sein Charakter. Nach der Revolution hätte er zu den Oligarchen, die ihn unterstützt haben, sagen müssen: Ich verleihe euch den Orden „Held der Ukraine“, macht eure Geschäfte weiter, aber mischt euch nicht mehr in die Politik ein. Sein größter Fehler war, seinen Freunden zu sehr vertraut zu haben.
Welche künftige Rolle sehen Sie für Exregierungschefin Julia Timoschenko?
Die einer permanenten Oppositionsführerin. Timoschenko versteht es sehr gut, die wunden Punkte der Regierung offen zu legen. Bis September hatten wir quasi keine Opposition. Es gab nur das diskreditierte Kutschma-Lager, das nicht das moralische Recht hatte, Juschtschenko und seine Mannschaft zu kritisieren. Jetzt haben wir eine Opposition, die aus demselben orangenen Milieu kommt. Diese Leute sind glaubwürdig, wenn sie Juschtschenko kritisieren. Die orangene Revolution ist zu einer Art Referenzpunkt geworden. Das hat den öffentlichen Diskurs im Land verändert.
Anfang nächsten Jahres tritt eine Verfassungsreform in Kraft, die das Parlament zu Lasten des Präsidenten stärkt. Wie soll das gehen, ohne Parteiensystem im westeuropäischen Sinne?
Die Reform wird ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einer Normalisierung sein, der auch die Entwicklung zu einem Mehrparteiensystem stimuliert. Bisher war nur eine Partei wichtig: die des Präsidenten. Das war auf einer informellen Loyalität gegenüber dem Regime begründet. Nun werden fünf, sechs von hunderten bislang dekorativen Parteien zu wirklichen Parteien werden. Jetzt muss nicht nur Geld, sondern auch moralisches Kapital in den Aufbau dieser Parteien investiert werden. Zudem müssen die Politiker lernen, Koalitionen zu bilden. Die künftige Regierung wird von der Parlamentsmehrheit bestimmt und nicht mehr vom Präsidenten. Das ist neu und wird Probleme mit sich bringen.
Welches Szenario erwarten Sie nach den Parlamentswahlen im kommenden März?
Es wird eine Koalitionsregierung geben. Die beste Variante wäre eine Koalition der Blöcke von Timoschenko und Juschtschenko. Die Neuauflage dieser Koalition wird weitaus lebensfähiger sein, weil sie auf einer klareren Basis fußt. Diesmal muss ein gemeinsames politisches Programm vorher ausgehandelt werden und nicht erst nach der Regierungsbildung wie im vergangenen Februar.
Der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowitsch hat unlängst von einem Verrat der Europäischen Union an der Ukraine gesprochen. Zu Recht?
Gegenüber Kiew legt die Europäische Union Doppelstandards an. Jeder versteht, dass die Ukraine weder morgen noch übermorgen einen Antrag auf Mitgliedschaft stellen kann. Es geht um eine politische Erklärung Brüssels, dass auch die Ukraine das Recht hat, EU-Mitglied zu werden, wenn das Land bestimmte Kriterien erfüllt. Doch Brüssel schweigt. Warum? Weil der Westen die Ukraine immer noch als russischen Hinterhof wahrnimmt. Wir interpretieren diese Zurückhaltung als Konzession an Russland. Man will Herrn Putin nicht irritieren. Die Ukraine wird für Öl und Gas geopfert. Das ist beleidigend.
Wie werden sich die russisch-ukrainischen Beziehungen künftig gestalten?
Die Ukraine muss sich um normale Beziehungen zu Russland bemühen, doch bleibt die Nachbarschaft schwierig. Russland will keine freundschaftlichen Beziehungen zur Ukraine. Die Russen glauben immer noch, sie seien eine Großmacht mit besonderen Rechten, vor allem im nahen Ausland. Die Ukraine ist für Russland wie ein Cousin vom Land. Der ist etwas dumm und kann nicht eigenständig leben und entscheiden. Der Cousin ist nett, solange er in seinem Dorf bleibt. Das ist wie bei Robinson Crusoe und Freitag. Crusoe liebt Freitag, aber nur so lange, wie der seine Rolle als Freitag spielt. Crusoe kann aber nicht akzeptieren, dass Freitag seine eigene Identität und seine eigenen Rechte hat.
Also wird es weitere Versuche Moskaus geben, Freitag alias Ukraine wieder zu beherrschen?
Russland wird jedes Instrument nutzen, um die ukrainische politische Szene zu untergraben und versuchen, sich das Land unterzuordnen. Doch das wird Moskau nicht gelingen.
INTERVIEW: BARBARA OERTEL