Bundeskanzlerin Angela Merkel : Fünf Jahre ohne klare Linie

Vier Jahre große Koalition, ein Jahr Schwarz-Gelb. Angela Merkel setzt jetzt aufs eigene Lager und gegen "die linke Seite". Dabei wollte sie "Kanzlerin aller Deutschen" sein.

Hinter dunklen Brillen lässt es sich besser pokern: Angela Merkel. Bild: dpa

BERLIN taz | Lange hat es gedauert. "Jetzt nimmt sie ihre Rolle als Parteikanzlerin an", sagt der SPD-Mann. "Das war die Abschiedsrede von der großen Koalition", freut sich der Kollege von der FDP. "Eine Rückkehr der Lager ist das nicht", relativiert einzig der Gesprächspartner von der CDU.

Fünf Jahre ist es nun her, dass Angela Merkel die Bundestagswahl 2005 denkbar knapp gewann. Jene Gelegenheit nutzte, die Gerhard Schröder ihr erst schenkte und dann fast wieder entwand - um mit seinem Auftritt am Wahlabend, den er selbst als "suboptimal" empfand, ihre Position wiederum zu stützen.

Ein Jahr ist vergangen seit jenem 27. September 2009, als Merkel in der Berliner CDU-Zentrale über den schwarz-gelben Wahlsieg jubelte - und die neue Farbenlehre mit einem Satz gleich wieder dementierte. "Mein Verständnis war und ist es", sagte sie, "dass ich die Bundeskanzlerin aller Deutschen sein möchte."

Fast zwölf Monate lang hat sie nach diesem Satz regiert. Der Koalitionsvertrag war noch gar nicht vorgestellt, da schimpfte ihr Finanzminister schon öffentlich über die Steuersenkungen der FDP. Ihre wichtigsten Minister sandte sie aus, um mit sanften Wohlfühlthemen bei der urbanen Bildungsschicht zu punkten. Schwarz-Gelb sollte die Bürgerlichen nicht verschrecken.

Es ist nicht das erste Mal, dass sich Merkel neu erfindet. Sie tat es, als sie sich vor fast elf Jahren vom Spendensammler Helmut Kohl lossagte. Sie machte es 2003, als sie die CDU beim Leipziger Parteitag auf Kopfpauschale und Bierdeckelsteuer festlegte. Es geschah nach der Bundestagswahl 2005, als sie aus dem Debakel des Paul-Kirchhof-Wahlkampfs Lehren zog und mithilfe der SPD zur Mitte rückte.

Der Glaube an Bekehrung

Der Begriff: Pragmatismus, griech. pragma = "Handlung", "Sache" oder "nützlich", "handelnd", "praktisch".

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Die Philosophie: eine der Hauptrichtungen der angelsächsischen Philosophie, die der Praxis den Vorrang gibt vor rein theoretischen Überlegungen. Philosophische Positionen lassen sich nur an ihrer Bewährung im Handeln bewerten. Oder wie es James Dewey formuliert hat: "Wahr ist das, was sich durch seine praktischen Konsequenzen bewährt." Es handelt sich um ein Verständnis von Wahrheit, das auf Letztbegründungen und damit - politisch gesprochen - auf Dogmen und Ideologien verzichtet. Sie geradezu negiert. Wahr ist letztlich, was "am besten bestimmte Probleme lösen kann" (Richard Rorty).

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Die Vertreter: Charles S. Peirce (1839-1914), William James (1842-1910), John Dewey (1859-1952). Heute: Richard Rorty, Hilary Putnam, Robert Brandom. (tok)

Immer gab es Leute, die an Merkels Bekehrung zu einer Ideologie glaubten. Friedrich Merz etwa, den sie in Leipzig mit den Steuerplänen einband. Oder Guido Westerwelle, der sich von der CDU-Chefin schwarz-gelbe Überzeugungen erhoffte. Mit Politik, wie die Regierungschefin sie versteht, hat das nicht viel zu tun. Auch die jüngste Verwandlung zur Lagerkanzlerin gehorcht dem Gebot des Pragmatismus. Wie sonst sollte sie die Landtagswahlen im nächsten Frühjahr überstehen?

Nie hat ein deutscher Kanzler so offensichtlich gegen seinen Koalitionspartner agiert wie Merkel in den letzten zwölf Monaten. Die nur noch ironisch gebrauchte Phrase vom "Wunschbündnis" wurde dafür zum Sinnbild. Die Ablösung des greisen Konrad Adenauer setzte sich die FDP erst in der Spätphase des Bündnisses zum Ziel. Gerhard Schröder düpierte mit seiner "neuen Mitte" Teile der eigenen Partei, nicht so sehr die Grünen.

Nach der Sommerpause soll nun plötzlich alles anders sein. Merkel entschied, die Zustimmung des Verfassungsgerichts vorausgesetzt, die Laufzeit der deutschen Atomkraftwerke um durchschnittlich zwölf Jahre zu verlängern. Dann hielt sie im Bundestag ihre erste schwarz-gelbe Rede, mit der sie den politischen Betrieb komplett überraschte. Zum Symbol erwählte sie das umstrittene Bahnprojekt Stuttgart 21.

"Es kann nicht sein", sagte sie, "dass die ganze linke Seite dieses Hauses nichts dazu beiträgt, dass der Technologiestandort Deutschland wirklich zum Leben erweckt wird, und gegen alles und jedes ist." Die ganze linke Seite: Das klang wie jene "andere Seite", auf die Schröder in Zeiten härtester Lagerkonfrontation stets einzudreschen bereit war.

Das Glück der Hardliner ist nahezu vollkommen, vor allem in der Bundestagsfraktion von CDU und CSU. Von einem neuen "Marshallplan" spricht der Atomlobbyist Joachim Pfeiffer mit Blick auf die Laufzeitpläne. "Beim Energiegipfel hat sie alles richtig gemacht", schwärmt sein Gesinnungsgenosse Michael Fuchs. Unzufrieden mit dem Auftreten der Kanzlerin schien allenfalls Baden-Württembergs Ministerpräsident Stefan Mappus, der das Bahnhofthema lieber nicht im Zentrum seines Landtagswahlkampfs sähe.

Späte Einsicht, sagen jene im Regierungslager, die Schwarz-Gelb für ein Projekt halten - und jene in der Opposition, die sich nach Fronten sehnen. Merkel habe nach einem Jahr endlich erkannt, dass sie in der neuen Koalition nicht weitermachen könne wie bisher.

Dass eine schwarz-gelbe Kanzlerin nicht erwarten könne, in allen politischen Milieus gleichermaßen populär zu sein. Dass der Versuch, die Wähler von der FDP zurückzuholen, der Union demoskopisch nicht nutzte, sondern schadete.

Merkel habe keine Wahl gehabt, finden ihre Anhänger innerhalb und außerhalb der CDU. Guido Westerwelle sei ein Oppositionspolitiker, nicht regierungsfähig und übermütig nach der Wahl. Erst der Blick in den Abgrund habe ihn zur Vernunft gebracht.

Westerwelles halb öffentliches Eingeständnis, er habe über Rückzug nachgedacht, gilt ihnen als Beleg seiner endgültigen Zähmung. Auch CSU-Chef Horst Seehofer sei erst jetzt unter Kontrolle, nachdem er sich im Wehrpflichtstreit vom eigenen Minister vorführen ließ.

Ein abrupter Imagewechsel, heißt es aus dieser Sicht, wäre Merkel nach der Wahl auch kaum bekommen. Es war ein Experiment, für das es keine Vorbilder gab. Sie war die erste deutsche Kanzlerin, die den Koalitionspartner austauschte. Das machte die kuriosen Bundestagsdebatten des vorigen Herbstes vielleicht nötig, in denen sich die Kanzlerin und ihr Exvize Frank-Walter Steinmeier zur Attacke nicht entschließen konnten.

Die Regierungschefin, die zwischen den Koalitionspartnern wechselt wie bei den Jacken zwischen Lila, Pink und Grün: Es ist erstaunlich, wie sehr dieses Erwartungsmanagement die Politikwahrnehmung bereits prägt. Die Beschlüsse zu Atomlaufzeiten werden medial kaum nach schwarz-gelben Maßstäben bewertet. Sondern nach der Frage, ob sie das Aus für schwarz-grüne Wunschbündnisse bedeuten. Die neue Volkspartei der Mitte gibt das Bewertungsraster vor.

Es gibt nicht wenige im Regierungslager, die den Umweltminister für die überraschend üppige Verlängerung der Laufzeiten verantwortlich machen. "Es gab einen sportlichen Ehrgeiz, zu zeigen, dass Norbert Röttgen nicht der Herr im Haus ist", sagt einer. Am Ende nicht nur bei Fraktionschef Volker Kauder. Die Debatte entwickelte eine Dynamik, in der es um Sachargumente nicht mehr in erster Linie ging.

Obama zur Nachahmung

Röttgen war es auch, der Merkel während des amerikanischen Wahlkampfs den Politikstil des Präsidentschaftskandidaten Barack Obama zur Nachahmung empfahl. Heute erscheinen die schwarz-gelben Querelen hierzulande geradezu als harmlos im Vergleich zu den Nöten, in denen Obama steckt. Es mag Angela Merkel in ihrem Politikverständnis bestätigt haben.

Für sie kommt es jetzt darauf an, Baden-Württemberg zu überstehen. Bei den übrigen Wahlen des nächsten Jahres hat die CDU nicht viel zu verlieren, weil sie außer in Sachsen-Anhalt nirgendwo regiert. Im Südwesten aber sind die Christdemokraten länger an der Macht als die CSU in Bayern oder einst die SPD in Nordrhein-Westfalen.

Würde dort der Grüne Winfried Kretschmann neuer Ministerpräsident oder gar ein no name von der SPD, wäre es ein Debakel. Bleibt Mappus dagegen im Amt, muss Merkel sich kaum fürchten - ganz gleich, auf welchen Koalitionspartner der Schwabe künftig angewiesen ist.

Bis dahin ist sie nun schwarz-gelbe Lagerkanzlerin. Aus Pragmatismus, nicht aus Ideologie. Die Abschaffung der Wehrpflicht ist kein konservatives Thema, höhere Sätze für Hartz-IV-Empfänger folgen nicht der Logik von Westerwelles spätrömischer Dekadenz. Längerfristige Festlegungen wird man von Merkel nicht erwarten können.

Situatives Regieren, gesunder Menschenverstand: Das sind Beschreibungen, die man von Merkel-Kennern hört. Es klingt ein bisschen nach Helmut Schmidt, auch wenn man sich Merkel in den Talkshows des Jahres 2046 nicht wirklich vorstellen mag.

Von einer Rückkehr zu Leipzig, von der endgültigen Häutung einer Kanzlerin mag aber außer den freudig erregten Atomlobbyisten kaum einer sprechen. "Die wahre Merkel", sagt einer, der sie ziemlich gut kennt, "die gibt es immer nur in Abhängigkeit von bestimmten Situationen."

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