„Dann bin ich lieber Türke“

ZUSAMMENLEBEN Mehr als 4.000 Menschen verfolgen das deutsch-türkische Fußballduell auf und um den Oranienplatz. Enttäuscht sind viele weniger über den Ausgang des Spiels denn über den Stand der deutsch-türkischen Annäherung

■ Innensenator Ehrhart Körting (SPD) hat die Forderung von CSU-Chef Horst Seehofer nach einem Zuwanderungsstopp für Türken und Araber heftig kritisiert. „Eine auf bestimmte Nationalitäten begrenzte Zuwanderungspolitik stigmatisiert hier lebende Menschen und dient nicht dem inneren Frieden“, sagte Körting der Nachrichtenagentur dpa in Berlin. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und der türkische Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan warben derweil für eine bessere Integration der Türken.

■ „Die Debatte der letzten Wochen hat gezeigt, dass wir nicht ausgrenzen, sondern den Islam und die Menschen, die aus solchen Ländern kommen, integrieren müssen“, sagte Körting. Außerdem seien bei weitem nicht alle Einwanderer aus der Türkei oder der arabischen Welt auch Muslime. Körting betonte, es gehe ihm nicht um Political Correctness. Weiter helfen könne aber nur „eine nüchterne Bestandsaufnahme und ein nüchterner Dialog. Da ist die Bevölkerung manchmal viel weiter als die Politik.“ (dpa)

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VON SEBASTIAN PUSCHNER

Als das 0:3 fällt, wirft Dogan Dogan enttäuscht den Kopf zurück und zuckt mit den Schultern. Aber schnell fängt er sich wieder. „Die Stimmung hier ist doch ganz gelassen, bei aller Enttäuschung freuen sich die türkischen Fans auch für Özil und Deutschland“, befindet der freischaffende Künstler aus Moabit. „Egal wer gewinnt, es ist ein Tag der Freude.“ Die Atmosphäre auf dem Oranienplatz lässt sich nicht unbedingt als freudig beschreiben, als am Freitagabend gegen halb elf Uhr die türkische Niederlage gegen Deutschland besiegelt ist. Enttäuschung steht den meisten Fußballfans ins Gesicht geschrieben, während sie sich schnell nach dem Abpfiff auf den Nachhauseweg machen. Immerhin: Mit den Pfiffen gegen den Wegbereiter des deutschen Erfolgs, Mesut Özil, dessen Großeltern einst von der türkischen Schwarzmeerküste nach Deutschland umsiedelten, ist es spätestens nach seinem Tor zum 2:0 vorbei.

Über 4.000 Menschen hatten das EM-Qualifikationsspiel auf einer Großbildleinwand im Herzen Kreuzbergs verfolgt, die allermeisten in Rot-Weiß, mit türkischen Fahnen in den Händen und Schals um den Hals. Schon vor dem Anstoß hatten Sicherheitsdienst und Polizei die Zugänge dichtgemacht, weil die Kapazitätsobergrenze des umzäunten Bereichs erreicht war.

Wer seinen Platz sicher haben wollte, musste früh dran sein – so wie die 37-jährige Nevin, die aus Köln angereist ist, um eine Freundin zu besuchen und das Spiel in Kreuzberg zu verfolgen. „Mein Herz ist in der Türkei, aber vom Kopf her denke ich, wenn die Deutschen mit ihrem schönen Fußball gewinnen, wäre das eigentlich auch nicht schlecht“, sagt sie, während vorn auf der Bühne das vom Radiosender Metropol FM, den Türkischen Gemeinden in Deutschland und dem Türkischen Bund Berlin-Brandenburg organisierte Vorprogramm läuft. „Egal wer gewinnt – wir werden feiern“, sagt auf der Bühne auch der Abgeordnete und bildungspolitische Sprecher der Grünen, Özcan Mutlu, und beschwört wie die meisten auftretenden Politiker, Unternehmer und Künstler die deutsch-türkische Freundschaft.

Rapper Alpa Gun wirft bei seiner Darbietung die schwarze Lederjacke ab – ein weißes Shirt kommt zum Vorschein, darauf das Label einer Modemarke neben schwarz-rot-goldenem Emblem. Auf Letzteres deutet der in Schöneberg aufgewachsene Sohn türkischer Einwanderer und ruft: „Hier sind wir geboren, hier haben wir gelernt uns anzupassen!“ Als er wenig später mit großer Geste seinen Eltern und Deutschland für die Möglichkeiten, die sich ihm geboten haben, dankt, prangt auf der Leinwand wie bestellt der Schriftzug einer Imagekampagne des Senats: „Sei vielfältig, Sei einzigartig, Sei Berlin.“

Viele reden über Sarrazin

Doch ganz so rosig sehen viele auf dem Oranienplatz den Stand deutsch-türkischer Gemeinschaftlichkeit nicht. Oft taucht in Gesprächen der Name Thilo Sarrazin auf. „Klar hat er recht, dass es auch Leute gibt, die nach Deutschland kommen und sich bedienen“, sagt etwa der 46-jährige Ahmet. „Aber warum muss man immer alle in einen Topf werfen?“ Seit 1980 lebe und arbeite er in Berlin, zahle Steuern und sei hier voll und ganz zu Hause. Doch die häufigste Frage, die ihm von Deutschen gestellt werde, etwa bei Elternabenden in der Schule seines Sohns, sei: „Wollen Sie später einmal wieder zurück?“ Das lasse ihn ratlos zurück: „Ich lebe doch hier, meine Kinder wachsen hier auf, wohin soll ich denn zurückwollen?“

Zwischen Imbissbuden und Ständen, die türkische wie deutsche Fanartikel verkaufen, erzählt der Mittdreißiger Tan Ähnliches: „Leute wie wir haben uns vor zehn Jahren schon völlig als Deutsche gefühlt.“ Aber angesichts ausgrenzender Politik und Rhetorik, wie sie in letzter Zeit mehr und mehr zugenommen habe, sagten sich viele wie er selbst heute: „Dann bin ich lieber Türke.“ Unglaublich schade sei das, fügt er noch an.

„Hier sind wir geboren, hier haben wir gelernt uns anzupassen“

RAPPER ALPA GUN

Dass es auch anders geht, beweisen die 25-jährige Lisa, die aus Oranienburg stammt, und ihr 29-jähriger deutschtürkischer Freund Levi, der im Wedding wohnt: Sie trägt die türkische Flagge um die Schultern, er die deutsche – „aus Solidarität, weil es eigentlich genau umgekehrt ist“, wie es Levi ausdrückt. „Zwar sind wenige deutsche Fans hier, aber man wird von allen mit offenen Armen aufgenommen, auch wenn man sich lautstark bei den deutschen Toren freut“, sagt Lisa.

Sichtlich wohl fühlen sich auch Heidi Brüns und ihr Mann. Von ihrem Zuhause gleich um die Ecke in Mitte ist das Informatikerpaar in Rente zum Public Viewing auf den Oranienplatz gekommen. „Wir wollten mal live miterleben, wie die türkischen Mitbewohner solch ein Fest feiern“, sagt die 61-Jährige. Sie hielten sich oft in Kreuzberg auf, „weil hier einfach mehr los ist“.

Mehr los ist in Kreuzberg wohl auch als in Ingolstadt. Den Namen des oberbayerischen Städtchens skandiert ein Dutzend junger Männer lautstark, als sie nach dem Spiel mit riesiger Türkeiflagge die Adalbertstraße entlanglaufen. „Wir kommen daher“, sagt einer, „und sind eigens für das Spiel angereist.“