Ethnologe über den Berliner Karneval: "Im Dilettantischen liegt auch ein Reiz"

Die Karnevalisten ziehen am Sonntag wieder durch Berlin - doch das wird in hundert Jahren keine echte Karnevalsstadt, glaubt der Ethnologe Wolfgang Kaschuba.

Schwein gehabt: Wenigstens soll's am Sonntag nicht regnen. Bild: ap

taz: Herr Kaschuba, Karneval und Berlin - das passt einfach nicht zusammen, oder?

Wolfgang Kaschuba: Ich würde das auch so sehen. Wobei ich Karneval als etwas verstehe, was in die kulturellen Traditionen einer Stadt eingeschrieben ist. Es hat viel mit dem zu tun, was der Lateiner früher den Genius Loci genannt hat, den Geist des Ortes. So betrachtet wird Berlin selbst in hundert Jahren keine Karnevalsstadt, genauso wenig wie Köln ein Wintersportort. Aber man könnte natürlich eine B-Variante nominieren und sagen: Wenn wir mit Karneval das Spiel mit kulturellen Phänomenen meinen, bei dem gnadenlos zitiert und gemischt wird, wo das Unechte manchmal authentischer ist als das Echte, dann bildet Berlin dafür eine sehr gute Bühne. Da muss man auch nicht im Sinne einer Authentisierung vermeintliche Wurzeln im 19. Jahrhundert suchen.

Aber nochmal zurück zum echten Karneval, dem rheinländischen. Wofür steht der?

Professor Wolfgang Kaschuba, 61, ist Geschäftsführer des Instituts für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Uni. Er forscht unter anderem über "Inszenierung und Performativität von Wissen: Städtische Volksfeste in Berlin seit 1945".

Zum elften Berliner Karnevalszug mit rund 60 Festwagen und 2.500 Teilnehmern am Sonntag (27. Februar) werden bis zu eine Million Zuschauer erwartet, wie der Veranstalter am Mittwoch mitteilte.

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Aus organisatorischen Gründen werde das Straßenfest bereits eine Woche vor dem eigentlichen Karnevalswochenende ausgerichtet, erklärte der Festkomitee-Präsident Edmund Braun: "Durch diesen Termin konnten wir mehrere Gruppen aus dem Rheinland bekommen, die eine Woche später in Köln sind."

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Nach Angaben des Vorsitzenden des Karnevals-Zug Berlin e.V., Harald Grunert, bewegt sich der Umzug um 12.11 Uhr vom Ernst-Reuter-Platz rund um die Gedächtniskirche über den Tauentzien. Anschließend ist eine After-Zug-Party in der Gotzkowskystraße in Moabit geplant.

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Berliner Karnevalsumzüge lassen sich nach Vereinsangaben bis in die Zeit von Friedrich dem Großen zurückverfolgen. In der jüngeren Vergangenheit gab es vor der Wiederbelebung 2001 durch Rheinländer zunächst von 1956 bis 1958 Faschingsparaden.

Für eine durchaus ernstzunehmende soziale kulturelle Tradition. Ein ritualisierte Situation, in der bestimmte gesellschaftliche Erscheinungsformen und Hierarchien hinterfragt werden dürfen. Nicht ernsthaft bis zum Bürgerkrieg, aber doch bis zur Provokation und Irritation von Obrigkeit. Sicher, wenn heute beim Rosenmontagsumzug in Köln oder Düsseldorf Merkel-Pappfiguren herumgefahren werden, ist der Stachel schon sehr stumpf geworden. Im 19. Jahrhundert hat man die Stadtobrigkeit buchstäblich in die Nase gezwickt, physisch, fies. Eine Art lokale Revolution, bei der man für ein paar Tage einen öffentlichen Raum schuf und ausprobierte. Das war schon mehr als Zuprosten und Tanzen: ein soziales und politisches Ventil.

Ist es der Mentalitätsunterschied zwischen Berlinern und Rheinländern, der den Spree-Karneval so blutleer macht?

Sicher kann man da von Mentalitäten sprechen. Das hat ja etwas zu tun mit kulturellen Traditionen, die in Regionen und Landschaften eingeschrieben sind. Aber ich glaube, es ist wichtiger, auf die Traditionen selber zu schauen. Jede Karnevalsstadt hat damit Rituale der Vergemeinschaftung: Da gibt es ja nicht nur die große Veranstaltung am Rosenmontag, sondern die vielen kleinen Vergemeinschaftungen im Viertel, in den Freundesgruppen, in der Kneipe oder eben das Küsschen. Das alles bedeutet auch Identifikation mit der Stadt.

Davon kann ja in Berlin keine Rede sein.

Richtig. Aber Städte, die vielleicht steifer oder kühler erscheinen, müssen eben andere Formen finden, und das tun sie ja auch. Nehmen Sie den Karneval der Kulturen, der ist auch eine Vergemeinschaftungsform und eine originäre Berliner Gründung. Da feiert sich das Milieu des Multikulturalismus, wie er mal gedacht war in dieser Stadt, und durchaus selbstironisch. Ich denke, wir leben in einer Zeit, in der solche Formen der Vergemeinschaftung noch bedeutsamer werden. Wir stehen mit dem rechten Bein in der großen Unabhängigkeit der Individuation, aber mit dem linken wollen wir uns die Möglichkeit der sozialen Einbindung erhalten. Wir wollen uns zuordnen können, ein "Wir" verkörpern. Mal ein politisches, mal auch nur ein spielerisches, wenn in der Hasenheide 8.000 Facebooker zur Schneeballschacht "Kreuzberg gegen Neukölln" antreten wollen.

Auch zum Kamelle-Karneval gehen Hunderttausende, obwohl sie sich herzlich wenig damit identifizieren. Warum?

Das ist ein Event. Da findet etwas statt, wird eine Kulisse errichtet, also: Gehn wir mal hin! Das ist urbane Neugier. Man weiß, da gibt es Spektakel, Kamelle, Getränke, also spielen wir mal Karneval - gerade in Preußen! Es ist ein bisschen wie ein Laufsteg. Stadträume sind heute Bühnen. Und während Städte wie Köln oder Mainz ihr traditionelles Volkstheater haben, spielen andere Städte das eben postmodern nach. Man ist darin vielleicht nicht so gut, nicht so bewegt, nicht so tief emotional, aber im Dilettantischen liegt auch ein Reiz.

Nach einer großen Zukunft klingt das nicht.

Das würde ich so nicht sagen. Die Frage ist, wie es betrieben wird. Ein Karneval in Berlin böte ja eigentlich anarchische Möglichkeiten - weil es keine Narrenzünfte gibt, keine Komitees, die seit Generationen den Comment bestimmen und haargenau festlegen, wer was darf. Wenn man das Branding Berlins mit dieser eher anarchischen Seite verbindet, kann das erfolgreich sein, ein Event eben. Die offene Inszenierung eines urbanen Karnevals, der sich selbst als Tradition nachspielt, aber keine hat. Solange Initiativen da sind, die das tragen, solange es dafür Ideen und Ressourcen gibt, kann man nicht sagen, was passiert.

War es eigentlich schon immer so, dass Berliner Feste erst als erfolgreich gelten, wenn sich die Teilnehmerzahl der Million nähert?

Das ist eine relativ neue Entwicklung. Früher waren sehr große festhafte Ereignisse meist "an oben", an die Nationalkultur gebunden - Gedenkfeiern, Staatsbegräbnisse, Kaisers Geburtstag. Heutige Events kommen auch ganz stark von unten. Wir wollen uns in und als Masse erleben. Am vergangenen Montag stand ich mit 40.000 anderen gefrosteten Menschen im Olympiastadion. Das lässt sich nicht nur mit Hertha erklären. Das ist eine urbane Erfahrungsform der "Erlebnisgemeinschaft", die sich entwickelt und die Stadtkultur neu prägt. Damit wird auch die Frage, wem die Stadt gehört, neu beantwortet.

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