Debatte Arbeitswelt: Moderne Tagelöhner

Keine andere Branche wächst derzeit so rasant wie die Leiharbeit. Der Abwärtstrend bei Löhnen und Arbeitsstandards wird auf diesem Weg beschleunigt.

Eine zentrale Forderung der Leiharbeiter ist "Equal Pay" - hier auf dem bundesweiten Aktionstag gegen Leiharbeit zum Ausdruck gebracht. Bild: dpa

Leiharbeit ist das flexibelste Runduminstrument, auf das Firmen derzeit zurückgreifen können, um das unternehmerische Risiko von Auftragsschwankungen vollständig auf die Arbeitnehmer abzuwälzen: Gibt es kurzfristig nichts zu tun, wird der Mietarbeiter auf die Straße gesetzt; Personalakquise und -verwaltung erledigen die Verleihbetriebe.

Dabei mag die aktuelle Zahl von derzeit rund 900.000 Leiharbeitern - bei rund 41 Millionen Erwerbstätigen insgesamt - nicht besonders hoch erscheinen. Doch das Phänomen erschließt sich nicht allein über die Quantität. Leiharbeit erfüllt wichtige strategische und symbolische Funktionen - und ist eine neu formulierte Antwort auf die Wirtschaftskrise.

Entscheidend für die Abfederung der Schockwellen, die die Finanz- und Wirtschaftswelt ab 2009 auch nach Deutschland schickte, waren nicht nur der Einsatz von Kurzarbeit oder der Abbau von Überstunden. Ebenso wichtig war, dass die Stammbelegschaft vor allem in der Exportindustrie einen schützenden Puffer Leiharbeiter um sich hatte, der gefeuert werden konnte: Der bis dahin absolute Spitzenwert von rund 820.000 Leiharbeitern brach in wenigen Monaten um 250.000 Personen ein.

Millionengrenze bald geknackt?

Jetzt, im Wirtschaftsaufschwung, wächst keine Branche so rasant wie die Leiharbeit. Das Bewusstsein, dass man als global konkurrierendes Unternehmen bei Wirtschaftseinbrüchen flexibel und schnell mit der Anpassung der Produktionskapazitäten reagieren muss, hat den Leiharbeitssektor gestärkt. Während große Konzerne in Deutschland in den letzten Jahren mehrere zehntausend Vollzeitstellen abgebaut haben, schaffen sie Arbeitsplätze für Leiharbeiter. So ist eine von drei neu geschaffenen Stellen heute ein Mietarbeitsverhältnis - die Millionengrenze, so berichtet der Bundesverband Zeitarbeit stolz, könnte bald geknackt werden.

Dabei war die Leiharbeit, so lautet die bis heute immer noch offiziell bemühte Begründung, doch einst als kurzfristiger und begrenzter Flexibilitätspuffer gedacht, um Auftragsspitzen aufzufangen oder, bei Krankheit des Stammpersonals, Lücken zu schließen. Doch inzwischen ist die Leiharbeit zu dem entscheidenden Instrument geworden, um Lohnkosten zu sparen. Neue Untersuchungen zeigen, dass Vollzeitleiharbeiter deutlich weniger verdienen als festangestellte Vollzeitarbeitskräfte (im Schnitt 1.340 Euro gegenüber 2.427 Euro). Mehr als 100.000 Mietarbeiter erhalten darüber hinaus sogar staatliche Unterstützung, weil ihr Lohn allein zum Leben nicht ausreicht.

Auswirkungen auf die Kollegen

Oft wird übersehen, wie diese Entwicklungen auch die Arbeitswelt der Normalbeschäftigten beeinflussen. Leiharbeiter sind wohlfeile Streikbrecher und werden gerne als Druckmittel in Tarifverhandlungen eingesetzt. Erst vor wenigen Wochen hielt die Telekom der Gewerkschaft Ver.di sinngemäß vor: Stellt ihr zu hohe Lohnforderungen, müssen wir langfristig eben auf mehr Leiharbeiter zurückgreifen. Und die Beschäftigten des Einzelhandels mussten schon 2007 schmerzhaft feststellen, dass ihnen durch den Einsatz von Leiharbeitern als Streikbrecher das entscheidende Machtmittel - die Blockade der Produktion - beschnitten wurde.

Leiharbeit hat aber noch ein anderes Gesicht: Beim Flugzeugbauer Airbus beispielsweise sind rund 4.500 der insgesamt rund 16.500 Beschäftigten Leiharbeiter. Etliche von ihnen arbeiten seit Jahren dort. Wer jedoch als Normalbeschäftigter regelmäßig daran erinnert wird, dass der Kollege oder die Kollegin nebenan die gleiche Arbeit für deutlich weniger Lohn und Sicherheit erledigt, für den übersetzt sich diese sichtbare Konkurrenz in die permanente psychologische Aufforderung, immer Bestleistung zu zeigen. Leiharbeit wird so zum Disziplinierungsinstrument.

Gegen solche Zumutungen hilft nur, die Mietarbeit gründlich zu regulieren. Ausgerechnet Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt liefert dafür gute Argumente. Sollte der Gewerkschaftsforderung nach "gleichem Lohn für gleiche Arbeit" entsprochen werden - Hundt fürchtet, ab dem 12. Monat "oder sogar noch früher" -, so würden große Unternehmen diese Regelung wohl gezielt umgehen, mutmaßte er. Diese Drohung kann nur dann ins Leere laufen, wenn es zu umständlich und zu teuer wäre, das Personalkarussell permanent am Laufen zu halten. Zum Beispiel, indem Leiharbeitern vom ersten Tag an der gleiche Lohn wie ihren Vollzeit-Kollegen gezahlt werden müsste.

Gleicher Lohn vom ersten Tag

Auch CDU-Arbeitsministerin Ursula von der Leyen liefert ungewollt Argumente für eine möglichst frühe Equal-pay-Regelung: Wer immer wieder betont, dass Leiharbeit vor allem unqualifizierten Arbeitslosen eine Chance böte, der kann nicht ernsthaft begründen, warum einfache Helfertätigkeiten Einarbeitungszeiten von mehreren Monaten benötigen sollen. Auch das viel bemühte Wort vom "Sprungbrett" erweist sich als Floskel. Denn gerade einmal 7 Prozent der ehemals Langzeitarbeitslosen, die als Leiharbeiter tätig werden, schaffen es bisher, langfristig in eine feste Beschäftigung zu wechseln.

Eine strengere Regulierung wird die Leiharbeit nicht abwürgen. Auch der massive Abbau von Arbeitsplätzen, mit dem die Unternehmen drohen, ist unwahrscheinlich. Dagegen würde es nicht nur die Position aller Arbeitnehmer stärken, gegen den Wildwuchs der Leiharbeit anzugehen. Es würde auch der Aushöhlung der Sozialsysteme durch niedrige Löhne vorbeugen und zu einem Umbau des einseitig auf die Exportwirtschaft fixierten deutschen Wirtschaftsmodells führen.

Gelingt dieser Umbau nicht, werden die Arbeitnehmer die Leidtragenden sein. Das Dumping bei Entlohnung und Arbeitsrechten geht längst weit über die deutschen Grenzen hinaus. Doch statt die eigenen Handelsüberschüsse abzubauen, fordert die deutsche Regierung die anderen Länder des Euroraums lieber dazu auf, es dem Exportweltmeister gleichzutun. Damit trägt sie ganz wesentlich dazu bei, den Abwärtstrend bei Löhnen und Arbeitsstandards zu beschleunigen. Und die Leiharbeit ist der Motor, der dieses exportfixierte Modell antreibt.

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Jahrgang 1976. Ist seit 2009 bei der taz und schreibt über Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik sowie die Gewerkschaften

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