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Archiv-Artikel

Zerbricht Italien an der Wahl?Ja

CHAOS Am Sonntag und Montag wählt Italien ein neues Parlament. Die Splitterparteien sind zerstritten

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Professor Gian Enrico Rusconi, 75, Buchautor, lehrte Politikwissenschaft in Turin

Den Eindruck erweckt zumindest der Wahlkampf. In keinem zuvor waren die Bündnisse so zerstritten. Die Argumente der Bündnischefs machen eine Koalition oder Zusammenarbeit unmöglich, es sei denn, eine Partei wird klarer Sieger. Die Vorhersagen schließen das aber aus. Sogar Mario Monti, der eine gewisse Kohäsionsfähigkeit mit anderen politischen Kräften hat, hat klar Position gegen alle seine Konkurrenten bezogen. Das populistische Bündnis „Movimento 5 Stelle“ von Beppe Grillo bekäme Umfragen zufolge beinahe so viel Zustimmung wie die größeren Bündnisse. Die Weigerung Grillos, seinen Gegenspielern öffentlich zu begegnen, kündigt einen feindlichen Umgangston im Parlament an. Die rechtspopulistische Lega Nord könnte davon profitieren und ihren Separatismus deutlich machen, auch wenn sie zu sehr mit Berlusconi verbunden ist, um sich tatsächlich aus dessen Mitte-rechts-Bündnis zu lösen. Wenn die italienischen Wähler nicht anders entscheiden, als alle Umfragen vorhersagen – was ich persönlich nicht ausschließe –, wird es in der nächsten Legislaturperiode nicht möglich sein, eine Regierung zu bilden.

Alexandra Porcu, 34, ist Vorsitzende des Sardischen Kulturzentrums Berlin

Wann hat es damit angefangen, dass das Land, das Intellektuelle und Künstler wie Leonardo da Vinci, Michelangelo, Dante Alighieri, Galileo Galilei und Antonio Gramsci hervorgebracht hat, hauptsächlich im Munde aller ist, wenn es um die Fehltritte der italienischen Politiker geht? Die Antwort kann nur „Berlusconi“ sein. Eine Person, die zuletzt am Holocaustgedenktag durch den Satz „Mussolini hat auch Gutes gemacht“ Aufmerksamkeit erregt hat, während man in Deutschland darüber diskutiert, ob die Wörter Negerkuss, ausgewichst und Liliputaner aus Kinderbüchern eleminiert werden sollten. Die Alternative? Die Bewegung eines Komikers, der mittlerweile die Rolle eines ernsten Politikers eingenommen hat, während der ehemalige Ministerpräsident Berlusconi bereits vor Jahren zur Witzfigur Europas avanciert ist. In so einer verdrehten Welt reagieren die meisten italienischen Staatsbürger, die in Deutschland leben, wahrscheinlich wie meine Mutter; sie schmeißen die italienischen Wahlunterlagen weg und kommentieren diese Handlung mit den Worten: „Ich bin aus diesem Land ausgewandert … und glaube mir, ich hatte meine Gründe.“

Jutta Lütkecosmann, 25, Studentin, hat unsere Frage per E-Mail kommentiert

Italien – das sind nicht nur Berlusconi-Mitläufer, Mafiosi oder Minirock tragende TV-Püppchen. Italien – das sind auch junge, intelligenteMenschen, die es satthaben, dass sie und ihr Land von außen nur belächelt werden. Aber auch junge Menschen, die schon oft enttäuscht worden sind. Die keine Arbeit finden, weil es der Markt, vor allem aber auch der Klientelismus im Land, nicht zulassen. Wer in Italien war, als der Cavaliere in Rom seinen Rücktritt eingereicht hat, der hat bei vielen dieser jungen Menschen vor allem eins gespürt: Hoffnung. Hoffnung auf eine wirtschaftliche Zukunft im eigenen Land. Aber kommt keine stabile Regierung zustande oder schafft Berlusconi es am Wochenende gar wieder an die Spitze, verlieren diese jungen Italiener vielleicht endgültig ihren Mut und geben ihr geliebtes Heimatland auf, sosehr es sie auch schmerzt. Dann kann Italien an der Wahl zerbrechen.

Nein

Dario Fo, 86, Satiriker, wurde 1997 mit dem Nobelpreis der Literatur ausgezeichnet

Ihr in Deutschland seid weit weg und neigt dazu, die Situation in Italien schlechtzureden. Aber um über die Wahlen urteilen zu können, muss man die der letzten Jahre erlebt haben. Ich glaube nicht, dass Italien an den „Schicksalswahlen“ zerbrechen wird. Denn Beppe Grillo hat aufgeholt – er hat in Sizilien und der Emilia Romagna überraschend viele Stimmen bekommen. Wenn er die zweitstärkste Kraft wird, erlebt das rechtsorientierte Bündnis von Berlusconi eine derbe Niederlage. Das „Movimento 5 Stelle“ von Beppe Grillo gilt zwar auch als politisch rechts, aber sein Wahlprogramm kommt links daher: Er will die Rechte der Arbeiter stärken, die Bildung vorantreiben und er will, dass die Reichen zahlen, die in den hohen Ämtern sitzen. Der Aufruf an al-Qaida, das Parlament in die Luft zu sprengen, ist ein grotesker Scherz – er ist Kabarettist wie ich. Populismus entsteht in Momenten des Umbruchs: Die Grille zirpt immer beim Sonnenuntergang.

Karoline Rörig, 40, hat den „Länderbericht Italien“ der bpb mit herausgegeben

Italien steckt zweifellos in einer tiefen Krise, aber es wird auch diese Zerreißprobe überstehen, wie schon so viele zuvor. Fraglich ist allerdings, ob die neue Regierung lange bestehen wird. Die letzten Umfragen weisen bereits darauf hin, dass es – unter den Bedingungen des geltenden Wahlrechts – keine klaren Mehrheiten geben wird. Unter diesen Voraussetzungen wird es schwierig bis unmöglich sein, die für die Zukunft des Landes so dringend notwendigen Reformen fortzuführen, die unter Mario Monti endlich in Angriff genommen wurden, in mancherlei Punkten aber nachbesserungsbedürftig sind. Italien droht eine Phase politischen Stillstands, begleitet von dem für die italienische Öffentlichkeit charakteristischen Getöse, während die gesellschaftlichen Probleme und Spaltungen immer unüberwindlicher werden. Frei nach dem Motto „Nach der Wahl ist vor der Wahl“ ist es vielleicht beim nächsten Mal so weit, dass die Republik in sich zusammenbricht. Aber die Probleme werden damit nicht vom Tisch sein; da hilft nur eine durchdachte Reformagenda.

Giuliano Ferrara, 61, Herausgeber und intellektueller Unterstützer Berlusconis

Italien wird an den nächsten Wahlen nicht zerbrechen. Die Ergebnisse werden, im Gegenteil, farbenprächtig sein, wir werden viele Maskierte sehen, viele Erben von Harlekin und Pulcinella, zwei Figuren der Commedia dell’arte. Aber letzten Endes wird sich eine Mitte-links-Regierung bilden und Berlusconi wird müde werden, die Rolle des Revoluzzers Masaniello zu spielen. Berlusconi ist ein Held des Populismus und er war ein Politiker, der paradoxerweise seinem Land nützlich war. Aber seine Zeit ist unwiderruflich vorbei. Jetzt hat der Komiker Beppe Grillo die Rolle des Volkshelden in der Komödie übernommen. Er schart das Volk mit Blitz und Donner um sich, aber er ist der Erste, der nicht an sich selbst glaubt. Ein interessanter Meteor, der vorbeiziehen wird. Italien ist eigentlich ein normales Land, auch wenn es ihm nicht immer gelingt, seine Nachbarn davon zu überzeugen. Alles ist weniger wahr, als es scheint. Wir sind weniger arm, als wir vorgeben, unsere Wirtschaft ragt heraus, dann taucht sie wieder ab, und wir ertragen eine verrückte Steuerbelastung, auch weil wir es uns erlauben können. Italien geht es besser, als man denkt.