Teilnehmerzahlen bei Demos: Alle zählen mit Gefühl

Nach Demonstrationen streiten sich Veranstalter und Polizei oftmals über die wahren Teilnehmerzahlen. opentaz hat nachgeschaut, wie die Zahlen ermittelt werden.

Nicht ganz so einfach: Wie viele Teilnehmer waren denn nun auf der Demonstration? Bild: dapd

BERLIN taz | Der Bürgerrechtler Louis Farrakhan rief 1995 zu einer Demonstration für die Rechte von Schwarzen vor dem Kapitol in Washington, D. C. auf. Er nannte sie Million Man March, womit feststand, mit wie vielen Teilnehmern Farrakhan rechnete.

Glaubt man ihm, kamen schließlich 1,5 Millionen Menschen. Vielleicht waren es auch nur 400.000, wie es der National Park Service errechnete, die amerikanische Bundesbehörde, welche die Teilnehmerzahl von Demonstrationen bestimmen soll. Oder waren es 837.000? Das ermittelte eine Studie der Boston University, die nachträglich in Auftrag gegeben wurde.

Die beteiligten Parteien gerieten darüber jedenfalls so in Streit, dass der US-Kongress dem National Park Service per Erlass verbot, Teilnehmerzahlen von Demonstrationen in Washington zu veröffentlichen.

Erst im Januar 2009 - zu Obamas Amtseinführung - wurde das Gesetz aufgehoben. Der US-Präsident wollte sich bei der Zahl seiner Sympathisanten nicht auf guten Glauben verlassen.

Die Frage, wie viele Menschen einer Veranstaltung beigewohnt haben, ist längst zu einer Machtfrage geworden. Im Falle von kommerziellen Events bedeuten mehr Teilnehmer mehr Geld, im Falle einer politischen Kundgebung mehr gesellschaftliche Relevanz. Auch bei Demonstrationen in Deutschland liegen die von Polizei und Organisatoren veröffentlichten Teilnehmerzahlen meistens weit auseinander.

Ein Beispiel sind die Proteste gegen Stuttgart 21: Anhaltender Streit über die Teilnehmerzahlen veranlasste Stefan Keilbach, Bürgerreferent des Polizeipräsidiums in Stuttgart, am 19. Februar 2011 dazu, Luftaufnahmen der Demonstration zu machen und im Internet zu veröffentlichen. Die Veranstalter hatten von 39.000 Teilnehmern gesprochen, die Polizei dagegen von 13.000.

"Ich habe jeden Kopf von insgesamt zehn Mann in drei unabhängigen Teams zählen lassen", sagt Keilbach. "Wenn Sie die Zahlen anzweifeln, dann können Sie sich die Bilder ja ausdrucken und nachzählen."

Solche Sorgfalt ist die Ausnahme. Und die üblichen Erfassungsmethoden unterscheiden sich stark. Es gibt die Schleusen-Methode: Dabei postieren sich zwei Beobachter am Rand eines Demonstrationszuges und zählen die vorbeilaufenden Menschen einzeln. Später werden die Zahlen abgeglichen. So machten es die Zähler der Stuttgart-21-Proteste.

Es gibt die Quadratmeter-mal-Dichte-Methode: Wenn die Größe des Demonstrationsareals bekannt ist, wird geschätzt, wie eng die Menschen pro Quadratmeter stehen, und dann hochgerechnet. So machen es die meisten Polizeibehörden.

In den wenigsten Fällen aber wird überhaupt gezählt, selbst von den Demonstranten nicht. Stattdessen dominieren Schätzungen. Und alle sprechen vom Gefühl.

"Wir setzen nur erfahrene Beamte ein, die das schon zigmal gemacht und ein Gefühl für die Menge haben", sagt zum Beispiel Polizeireferent Keilbach. "Die können gut einschätzen, wie dicht die Menschen stehen."

Matthias Kästner, der die Zahl der Protestierenden gegen Stuttgart 21 am 19. Februar 2011 für die Veranstalter ermittelt hat, sagt: "Einer unserer Leute hat von einem erhöhten Punkt die Abschlusskundgebung beobachtet und geschätzt, dass circa ein Drittel der Leute dort nicht am Demonstrationszug zuvor teilgenommen haben.

Der hat als Eventmanager ein untrügliches Gefühl für Menschenmengen. Deswegen haben wir die von uns gezählten Demoteilnehmer mit 1,35 multipliziert, um auf die Gesamtzahl zu kommen."

Solche Schätzungen haben ihre Tücken. Die Annahme der Polizei, dass sich auf einem Quadratmeter maximal zwei Menschen aufhalten können, wurde von Kästner widerlegt: Er ließ einen Quadratmeter mit Tape abkleben, auf dem sechs Menschen Platz fanden - einer sogar mit Regenschirm.

Und auch Zählungen können nur selten verlässlich sein: Sie eignen sich nur bei langsamen und übersichtlichen Demozügen oder auf einem Areal, das nur wenige Zugänge hat.

"Am genauesten sind vermutlich Luftaufnahmen", sagt Dieter Rucht, Bewegungsforscher am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berlin, der seit Jahren die Dynamik von Demonstrationen untersucht. "Anschließend sollte man das Demonstrationsareal in Flächen mit verschiedenen Personendichten einteilen, die dann zusammengerechnet werden."

Die großen Zahlenunterschiede seien aber auch eine Folge politischer Interessen, sagt Rucht: "Es gibt Anliegen, die als staatsbedrohend ausgelegt werden, sodass die Polizei die Zahlen herunterspielt. Die Veranstalter versuchen, das durch überhöhte Zahlen zu kompensieren. Bemerkenswerte Ausnahmen sind staatsnahe Proteste, wie der Aufstand der Anständigen gegen Rechtsextremismus im Jahr 2000. Da stimmten plötzlich die Zahlen von Veranstaltern und Polizei überein."

Es habe auch schon Fälle gegeben, in denen Polizei und Veranstalter ihre Zahlen vor der Veröffentlichung abgeglichen hätten.

Ein Modell für die Zukunft? Doch auf das Angebot von Matthias Kästner, die Teilnehmer zukünftiger Demonstrationen gemeinsam zu ermitteln, will Keilbach nicht eingehen. "Dazu haben wir keinen Anlass und kein Personal. Es geht der Polizei nicht darum, die exakte Anzahl Menschen festzustellen, sondern um eine Schätzung aus Sicherheitsgründen." "Schade", sagt Kästner, "so könnte die Polizei den Vorwurf der politischen Einflussnahme entkräften."

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