Karneval der Kulturen in Berlin: Revolution im Karnevalsformat

Auf einem BVG-Bus will der Verein Dégage beim Berliner Karneval der Kulturen die tunesische Revolution feiern - mit Karikaturen und politischen Forderungen.

Darf einmal im Jahr an die frische Luft: Der Karnevals-Festputz. Bild: dpa

"Für so ein Bild hätte man mich früher wohl verhaftet", grinst Selmen Nahdi. Der 24-jährige Tunesier hat gerade mit schnellen Strichen das Gesicht von Zine el-Abidine Ben Ali auf ein Blatt Papier skizziert. Bösartig sieht er aus, der korrupte Machthaber, der im Januar nach 23 Jahren von der tunesischen Protestbewegung aus dem Amt gejagt wurde. Am Ohr der Karikatur hängt ein lachender Föhn mit Glubschaugen.

"Im Leben Ben Alis hat ein Haartrockner eine entscheidende Rolle gespielt - die Diktatorengattin Leila Ben Ali war Friseuse", erklärt Noureddine Ben Redjeb, der mit zwei anderen Tunesiern aufmerksam das Entstehen der Karikatur verfolgt. Die Männer lachen laut und erleichtert über den Schurken, der vor der Revolte nach Saudi-Arabien floh. Sie tragen T-Shirts mit der Aufschrift "Dégage" - zu Deutsch "Zieh Leine". Eine Forderung, die nicht nur an Ben Ali gerichtet ist, sondern an alle verbliebenen Freunde des Regimes.

"RCD dégage - weg mit der RCD!", zitiert Ben Redjeb den Schlachtruf der Aufständischen: weg mit der Einheitspartei, die seit 50 Jahren Bevölkerung und Rohstoffe des Landes plündert. Dégage nennt sich auch der lockere Zusammenschluss von Exiltunesiern, die unter dem Motto "Revolution made in Tunesia" beim Karneval der Kulturen auftreten. "Für den Umzug am Sonntag haben wir uns einen alten BVG-Bus aus den 60er-Jahren besorgt, den wir von tunesischen Künstlern bemalen lassen", erklärt Ben Redjeb, der die Idee zu dem Projekt hatte.

Das Straßenfest: Auf dem Blücherplatz wird am Sonnabend/Sonntag von 11-24 Uhr und am Montag von 11-19 Uhr gefeiert. Mit 232 Ständen und mehr als 700 Musikern auf vier Bühnen.

Afrikanische Klänge und eine äthiopische Kaffeezeremonie bietet die Farafina-Bühne, auf der Latinauta-Bühne gibt es Rumba, Cumbia oder aztekischen Tanz. Von der Bazaár-Berlin-Bühne ertönt Türkpop, Dönerrock oder Afro-Rai, unter dem Namen Eurasia zeigen Raga-Musiker aus Indien und TänzerInnen aus Vietnam ihr Können.

Der Umzug: Am Sonntag um 12.30 Uhr gehts am Hermannplatz los. Die Parade mit rund 3.500 Teilnehmern zieht über Hasenheide, Südstern und Gneisenaustraße, das Ziel Yorckstraße soll gegen 21.30 Uhr erreicht werden.

Der Kinderkarneval: Am Sonnabend ab 13.30 Uhr zieht die Kostüm-Parade der Kleinen am Mariannenplatz los. Das diesjährige Motto lautet "Tanzt mit dem Tiger", Tigerkostüm ist angesagt. Bis 15 Uhr will man im Görlitzer Park ankommen, dort gibt es bis 19 Uhr ein großes Kinderfest.

Der 57-jährige Konzertmanager beim Haus der Kulturen der Welt und ehemalige Radio Multikulti-Moderator fühlte sich vom Anblick brennender Autos in Tunis inspiriert: Regimegegner hatten Nobelkarossen der mafiösen Ben Ali-Familie angezündet und mit Graffiti bemalt. "Als ich bei Facebook diese Autofriedhöfe mit Revolutionsparolen sah, wusste ich, was wir beim Karneval machen können", sagt Ben Redjeb, der in Tunis aufwuchs und seit Jahrzehnten in Deutschland lebt.

Der umtriebige Mann ist auch Gründer des Vereins "Garten der Kulturen", der durch künstlerische Begegnungen den Dialog zwischen den Kulturen fördern will. Zum ersten Mal nehmen der Verein und Ben Redjeb nun mit einem Wagen am Karnevalsumzug teil. "Der Umzug ist ein gutes Mittel, um gleichzeitig für das Land zu werben und ein paar dringende politische Forderungen unterzubringen", sagt er.

"Es gibt jetzt kleine Freiheiten"

Von den brennenden Autos und den Protesten der sogenannten Jasminrevolution erfuhr Ben Redjeb über das Internet. Dort stieß er auch auf die Karikaturen des 24-jährigen Selmen Nahdi, der von Paris aus die Entwicklungen in der arabischen Welt kommentiert. Er lud ihn ein, beim Karneval der Kulturen aufzutreten - und noch ein paar weitere junge Künstler und Studenten, die in Frankreich und Deutschland leben. "Was in Tunesien passierte, war eine Internet-Revolte", sagt Ben Redjeb. Zu Ehren der Internet-Aktivisten, die es schafften, die staatliche Zensur zu umgehen, werde man beim Karnevalsumzug "Anonymus"-Masken tragen. Und natürlich T-Shirts mit dem Schriftzug Dégage, auf dem Rücken die tunesische Nationalflagge.

Houssem Zarrad, der in Berlin Informatik studiert, sagt, er habe die Revolution über Facebook verfolgt, der Mut der Protestierenden habe ihn tief beeindruckt. Im März fuhr der 26-Jährige selbst hin, um einen Eindruck von der neuen Freiheit zu gewinnen. Die Bilanz seines Besuches fällt nüchtern aus. "Es gibt jetzt kleine Freiheiten", sagt er. "Man darf reden oder schreiben, was man will - aber das Land hat noch einen langen Weg vor sich."

Dass der Abgang Ben Alis erst der Anfang zu einer langwierigen Demokratisierung des diktaturgeschwächten Landes ist, darüber sind sich alle am Tisch einig. "Echte Reformen haben bis jetzt noch nicht stattgefunden" beklagt Ben Redjeb. Das finanzielle Engagement der G8-Staaten, die Tunesien und Ägypten im Mai Milliardenhilfen zusicherten, hält er für verfrüht. Noch säßen viel zu viele Unterstützer der Regimes an entscheidenden Stellen. "Man sollte abwarten, bis es eine demokratisch gewählte Regierung gibt."

Die kleine Gruppe verabschiedet sich - der Bus, der in einem Depot in Tempelhof steht, wartet noch auf seine Bemalung, auch die Dekoration für den Umzug am Sonntag ist noch nicht annähernd fertig. Die Revolution in karnevaltaugliches Format zu bringen, ist gar nicht so einfach.

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