Fast wie in der Kirche

OSCARS Ein jährliches Happening: Bei der 85. Verleihung des Filmpreises in Los Angeles gab es kaum Überraschungen. Trotzdem konnte man sich seiner Sogwirkung nicht entziehen

Michelle Obama höchstselbst öffnete den Umschlag – und verstärkte so zuletzt noch einmal die Illusion, dass es bei den Oscars um Wichtiges geht

VON BARBARA SCHWEIZERHOF

Die Oscars haben viele Namen – von „Olympiade des Films“ bis zu „Mutter aller Preiszeremonien“. Der diesjährige Showmoderator Seth MacFarlane fügte in Los Angeles einen weiteren Vergleich hinzu: „Ein Sonntag, alle sind fein gekleidet – es ist wie Kirche, nur dass mehr Menschen beten.“ Und dass ihnen dabei weltweit ein paar hundert Millionen zuschauen. Wobei einige der Zuschauer wohl selbst mitbeten. Denn das ist das Unglaubliche an den Oscars: welche Sogkraft sie entwickeln können. Sind im Dezember noch die meisten Filmfans der Ansicht, dass die Goldstatuen nichts bedeuten, weil zu oft jene, die es wirklich verdient hätten, übersehen wurden, gibt es unmittelbar vor der Verleihung kaum jemand, der nicht eine Wette über den Besten Film abgeschlossen hat.

Nach der Verleihung aber, in Europa ist das passenderweise der frühe Montagmorgen, kratzt sich alles wie verkatert den Kopf: Das soll alles gewesen sein? Ironischerweise klagen die, die richtig vorhergesagt haben, über zu wenig Überraschung, die anderen darüber, dass eben mal wieder nicht die Richtigen („Zero Dark Thirty!“) gewonnen haben.

Dass Ben Afflecks „Argo“ als Bester Film ausgezeichnet würde, das hatten zuletzt die sprichwörtlichen Spatzen von den Dächern gepfiffen. Für das Warum gibt es hinreichende Erklärungen: ein Film, in dem Hollywood selbst vorkommt, und zwar als verschworene Truppe gewiefter Veteranen, die heimlich die Leben von sechs im Iran festsitzenden Amerikanern retten – wie könnte die „Academy“ da widerstehen. Zumal Regisseur Ben Affleck gerade dadurch, dass ihm eine Nominierung für die beste Regie vorenthalten wurde, zu jener Art „Underdog“ wurde, den man besonders gerne triumphieren sieht. Auch wenn unter den neun Mitbewerberfilmen solche sind, die gewichtigere Themen behandeln („Lincoln“, „Zero Dark Thirty“), visuell („Life of Pi“), spirituell („Amour“) oder einfach interessanter sind („Beasts of the Southern Wild“), kann man sich bei „Argo“ doch auf eines einigen: Er ist ausgesprochen unterhaltsam.

Die eine Überraschung des Abends war gar keine mehr: Dass Steven Spielbergs „Lincoln“, einst mit 12 Nominierungen als Favorit angetreten, nur zwei Oscars mit nach Hause nehmen konnte, hatte sich lange abgezeichnet. „Life of Pi“ steht mit vier Oscars als Sieger nach Zahlen da. Ang Lee, der Spielberg in der Kategorie des Besten Regisseurs schlug, dankte denn auch konsequent dem „movie god“. Wie MacFarlane sagte, die Oscars sind „wie Kirche“ und die Wege des Herrn Kinogott unergründlich.

Abend der Österreicher

In den vier Schauspielkategorien lief alles nach Plan. Christoph Waltz eröffnete mit seinem zweiten Oscar als Bester Nebendarsteller Tarantinos („Django Unchained“) den Abend. Später gewann Michael Haneke für „Amour“ den Auslands-Oscar. Ann Hathaway nahm erwartet tränenerstickt ihre Auszeichnung für ihren Auftritt im Musical „Les Misérables“ an. Und Jennifer Lawrence („Silver Linings Playbook“) siegte über Emmanuelle Riva („Amour“), der viele Kritiker den Vorzug gegeben hätten. Aber dann stolperte Lawrence über ihr prächtiges Kleid, bedankte sich so bescheiden-trotzig für die Standing Ovations, die sie bekam („Ihr seid doch nur aufgestanden, weil ich gestolpert bin!“), und war überhaupt so umwerfend charmant, dass man ihr den Oscar doch aus vollem Herzen gönnte. Zumal sie die Grazie besaß, „Emmanuelle“ einen herzlichen Geburtstagsgruß zuzurufen. Riva nämlich ist am Oscar-Tag 86 geworden.

Wer nun gedacht hätte, dass Lawrence’ Auftritt an Charme nicht beizukommen wäre, den belehrte Daniel Day-Lewis in der ihm eigenen Mischung aus Humor und Demut eines Besseren. Day-Lewis’ „Sieg“ hatte als sicher gegolten und trotzdem zeigte der britisch-irische Schauspieler sich angemessen beeindruckt, machte Scherze darüber, dass er und Meryl Streep, die ihm die Statuette übergab, erst vor wenigen Jahren getauscht hätten – eigentlich hätte nämlich er die „Eiserne Lady“ spielen sollen …

Apropos Rührung: Tränen in die Augen des Publikums trieb auch der Auftritt von Adele, die für ihren Song „Skyfall“ einen der raren Oscars für die Bond-Serie holte. Sie war wohl die einzige, die das Mikrofon bei der Dankesrede vorzeitig von sich stieß, weil ihr die Stimme versagte. So musste hier einmal nicht das Orchester einschreiten, das in diesem Jahr ausgerechnet mit dem Thema des „Weißen Hais“ die Langredner von der Bühne jagte.

Die größte Überraschung des Abends kam zum Schluss, als zur Verkündigung des Besten Films live ins Weiße Haus geschaltet wurde. Michelle Obama höchstselbst öffnete den Umschlag – und verstärkte so zuletzt noch einmal die Illusion, dass es hier um Wichtiges geht. Aber wie gesagt, am nächsten Morgen sieht alles schon wieder ganz anders aus. Wofür sind Oscars gut? Um sie in künftigen Nachrufen an prominenter Stelle zu erwähnen.