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Archiv-Artikel

Die Moderne in der Muttermilch

Eine üppige Sammlung literarischer Skizzen, die die Vorstellung, dass die Welt sich aus einem einzigen Blickwinkel erfassen lässt, mit Verve zerstäubt: Martin Walsers Tagebücher aus den Jahren 1951 bis 1962

„Wie war das Schreiben leicht und mühelos, als ich aus Kafka eine Manier machte. Damals war jede absichtslose Handbewegung gesichert. Inzwischen ist alles gefährlich geworden“

von KLAUS SIBLEWSKI

„Werbe-TV? Die Industrie weiß, daß es kommen wird“, lesen wir unter dem Datum des 25. 6. 1954. Martin Walser ist der Autor dieses Satzes, und erstaunlich an dieser knappen Feststellung ist, dass sie sich im reinen Konstatieren erschöpft, obwohl dieser Vorgang doch ein kritisches Wort verdient hätte.

Sätze wie diese, im harten Indikativ gehalten, sind in Walsers Tagebuch aber keine Ausnahme. Sie geben eine Einstellung zu Entwicklungen zum Beispiel in der Werbebranche preis, die uns heute in ihrem unbekümmerten Registrieren fremd ist. Eine weiteres Walser-Notat: „Ein Illustrierten-Konzern verhält sich eisig gegen TV, weil er einen Einbruch in seinen Werbe-Etat befürchtet.“ Ohne Bedauern hält er fest, was sich ereignet. Kulturkritik ist für ihn eine unbekannte Disziplin. Überhaupt scheint er kein Sensorium dafür zu besitzen, wer unter den Verteilungskämpfen in den Fünfzigerjahren gelitten hat und wer sich als Gewinner fühlen durfte. Und er scheint dieses fehlende Empfinden nicht einmal zu registrieren.

Dabei ist Walser damals alles andere als ein unsensibler Klotz gewesen. Er gehörte keineswegs zu jenen „harten“ Nachkriegstypen, die sich durchsetzen wollten und die es offensichtlich als eine Schwächung angesehen hätten, wenn sie über die Folgen ihres Handelns ausführlicher nachgedacht hätten. Walsers Feier der Jugend spricht dabei eine deutliche Sprache: „Je jünger einer ist, desto schneller weiß er, wenn er am Morgen aufwacht, wo er sich befindet. Mit dem Alter steigt die Zahl der Möglichkeiten, […] wie soll sich da einer zurechtfinden?“

Von diesen Grundsätzen blieb aber auch Walsers Literatur nicht unberührt. Darin ist er jedoch auch kein Einzelfall, sondern ein typischer Vertreter der Autoren, die in der jungen Bundesrepublik zu schreiben begannen. Das macht sein umfangreiches Tagebuch jetzt zu einem wichtigen Dokument, da es uns einen der Protagonisten nahe bringt, die die Literatur der Bundesrepublik maßgeblich mitgestaltet haben. Allerdings besitzen diese Notizen darüber hinaus auch literarische Qualitäten, die nicht unterschätzt werden dürfen. Der Leser darf sich nach wenigen Seiten von einem wahren Sturzbach von Notaten fortgerissen fühlen und wird an sich die Beobachtung machen, dass er sich den Strudeln und Windungen dieses Sturzbaches gerne überlässt.

Walser legt dabei von der ersten Notiz an mit höchstem Anspruch los. 1951 schreibt er in sein Heft: „Die Sprache ist etwas, was man trotz der einzelnen Sätze und Wörter noch spüren muß.“ Das Signal, das von dieser Notiz ausgesendet wird, lässt sich gar nicht missverstehen: Ihm, Walser, geht es um Literatur und um sonst nichts. In dieser Haltung bleibt er sich in den elf Jahren, die diese „Tagebücher“ umfassen, treu. Er begleitet die Arbeit an den frühen Erzählungen, für die er 1955 den Preis der Gruppe 47 erhalten hat, mit Notizen. Das Entstehen seines ersten Romans, „Ehen in Philippsburg“, und vor allem die Arbeit an seinem zweiten Roman „Halbzeit“ zieht eine breite Spur an Überlegungen nach sich. Parallelszenen werden entwickelt, Figuren entworfen, aus dem Schreiben herrührende Grundsatzfragen durchdacht. Walser findet kein Ende und mag auch kein Ende finden: „Der Schuster, der keine Arbeit mehr hat und sich zu einem Gewissensdiktator einer Stadt aufschwingt (Verhör einer Stadt). Der Versuch, alles gut zu machen, erzeugt Heuchelei und Gewalttätigkeit: lieber normale Schlechtigkeit.“

In seinen Notizbüchern trainiert Walser regelrecht. Hier übt er sein Ausdrucksvermögen und hier findet auch sein unbezähmbar anmutendes Ausdrucksverlangen, das sich in der Arbeit an den Manuskripten bei weitem nicht erschöpft, ein ins schön Unendliche sich ausdehnendes Betätigungsfeld. Hier denkt Walser aber auch über seine literarischen Vorbilder nach. Allerdings heißt das nicht, dass sein Blick auf die Literatur dadurch differenzierter würde. Die Begegnung mit Franz Kafka wird, wie könnte es anders sein, als die Geschichte eines Siegs erzählt. Immerhin hat die Bekanntschaft mit dessen Werk es ihm ermöglicht, mit seinem zu beginnen, insofern hat Walser Recht, eine positive Bilanz zu ziehen. Kafkas brüchiges Verhältnis zur Literatur dagegen, was die nachfolgenden Generationen an diesem Autor so faszinierte, nimmt er – wenn überhaupt – und das ist symptomatisch, allenfalls am Rand wahr.

Damit sind wir auch am schwierigsten Punkt dieses Buchs: Walsers Verhältnis zur literarischen Moderne. Darüber müsste man nicht weiter nachdenken, weil seine Auffassungen von Literatur in dieser Zeit etwas Handwerklich-Hemdsärmeliges, also zutiefst von der Moderne Unberührtes haben. Dennoch beschäftigen ihn gerade deren Säulenheilige mehr als andere Autoren. Was er an Proust wahrnimmt, ist allerdings dürftig: „Das Schlimme ist, daß die Zeit genau weiß, daß ich nicht ewig so fortschreiben kann. Sie steht neben mir und zählt die Buchstaben und beobachtet die schlaffer werdende Hand. Sie weiß (und ich weiß es auch), daß ich mir durch die Schreiberei keinen Schutz gegen sie verschaffe […].“

Diese Beobachtung stimmt, wenn man beim Schreiben auf die Uhr schaut und bemerkt, dass die Zeit, obwohl man sich mit Literatur beschäftigt hat, weiter vorangeschritten ist. Mit Prousts Prosa hat diese Beobachtung jedoch wenig zu tun, ihr ist in ihrer einfachen Strickart sogar eine gewisse Vorsätzlichkeit, Proust nicht verstehen zu wollen, anzumerken. Walser will nicht differenzierter schauen. Komplizierte Vorgänge wie sein Abschied von Kafka machen ihm Angst: „Wie war das Schreiben leicht und mühelos, als ich aus Kafka eine Manier machte. Damals war jede absichtslose Handbewegung gesichert. Inzwischen ist alles gefährlich geworden.“

Lieber verteidigt er sein jugendlich vorbehaltloses Arbeiten, denn zu allem darf es kommen, nur nicht zu Schreibblockaden, damit er aus dem Kreis der Schriftsteller nicht vorzeitig ausscheiden muss, die in der Literatur der Bundesrepublik eine bedeutende Rolle spielen.

Ganz ohne Auswirkungen auf seine Arbeit konnte die Beschäftigung mit Kafka und Proust aber nicht bleiben, und das wirkt sich auch auf die literarische Qualität dieses Buchs aus. Dass es literarisch seinen eigenen Wert besitzt, liegt daran, dass diese Tagebücher keine Tagebücher im engeren Sinne sind. Wer Genaueres über Walsers Tagesablauf als Schriftsteller wissen will oder erfahren möchte, welche Liebschaften er hatte, wird enttäuscht werden. Dagegen kommen die Literaturliebhaber unter den Lesern auf ihre Kosten. Walser hat in seine Notizbücher nämlich eine gewaltige Sammlung literarischer Skizzen angelegt. Die Verbindungen zu seinem Leben sind gar nicht zu leugnen, allerdings drängt Walser im Notieren die realen Anlässe in den Hintergrund und lässt dafür funkelnde Prosaminiaturen entstehen, die als Etüden in der Mehrzahl ihren Reiz haben.

Der Clou des Buchs aber besteht darin, dass es sich wie der Prototyp eines Romans liest, der genau jene literarische Tradition mit großem Schwung fortsetzt, von der Walser nur Handwerkliches lernen wollte: die Moderne. Auf mehr als sechshundert Seiten tritt er eine Lawine von Bruchstücken los, die die Vorstellung, dass die Welt sich aus einem einzigen Blickwinkel erfassen ließe, donnernd unter sich begräbt. Mit sichtbarem Vergnügen badet Walser im Glück, immer neu ansetzen und sich dem Brüchigen und Zufälligen überlassen zu können. Kurz: Walsers wild-verquere Notiz-Orgie ist unter seinen eigenwilligen Büchern sicher sein Bestes.

Martin Walser: „Leben und Schreiben“. Tagebücher 1951–1962. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2005, 668 Seiten, 24,90 Euro